Aus Nr. 35, S. 321 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe:
Meine früheren Schriften behandeln das reine Denken so, dass ersichtlich ist, ich zähle dieses durchaus zu den Verrichtungen des «schauenden Bewusstseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch schattenhafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen. Man kann aus meinen späteren Schriften überall ersehen, dass ich als höhere geistige Erkenntniskräfte nur diejenigen anzusehen vermag, die der Mensch in einer ebensolchen Art entwickelt wie das reine Denken. Ich lehne für den Bereich der geistigen Erkenntniskräfte jede menschliche Verrichtung ab, die unter das reine Denken herunterführt, und erkenne nur eine solche an, die über dieses reine Denken hinausgeleitet. Ein vermeintliches Erkennen, das nicht in dem reinen Denken eine Art Vorbild anerkennt und das sich nicht im Gebiete derselben Besonnenheit und inneren Klarheit bewegt wie das ideenscharfe Denken, kann nicht in eine wirkliche geistige Welt führen. Durch diese meine Stellung zu den geistigen Erkenntniskräften des Menschen, welche für jedes Erkennen die Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat, kam ich gegenüber derjenigen Vorstellungsart, die man da und dort Mystik nennt, in eine besondere Lage. Gibt man von der «Mystik» die Definition, sie sei ein Erkennen, durch das der Mensch sein eigenes Wesen mit dem Weltwesen verbunden erlebt, so muss ich diese Definition für diejenige Anschauung in Anspruch nehmen, die ich von dem wahren Erkennen habe. Ich muss sagen: «echte Mystik» kann nur erreicht werden, wenn diejenigen erkenntnistheoretischen Grundlagen anerkannt werden, die ich glaube, erarbeitet zu haben. Blicke ich dagegen auf dasjenige, was oft als Mystik bezeichnet wird und was gerade die Besonnenheit und Klarheit vermeidet, die dem Denkvorgang eignen, dann sehe ich mich genötigt, eine solche Mystik so zu kennzeichnen, wie ich es in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» getan habe: «Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist geradeso wie Goethe davon überzeugt, dass ihm in inneren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das innere Erlebnis, auf das es ankommt. Über die klaren Ideen der Vernunft hat er ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur und gehören nur dem menschlichen Verstande an. Der Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch Erweckung besonderer Kräfte zu gelangen. Er sucht durch Entwickelung ungewöhnlicher Zustande, zum Beispiel durch Ekstase, zu einem Schauen höherer Art zu gelangen . .. In eine Welt unklarer Empfindungen und Gefühle versenkt sich der Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert den Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt.» Diese so von mir zu kennzeichnende Mystik muss ich weit aus dem Gebiete herausstellen, in dem ich die Erkenntniskräfte suche, welche die geistige Welt erschließen. Diese Mystik treibt das menschliche Seelenleben in einen Bereich, in dem es in größere Abhängigkeit gerät von der menschlichen Organisation, als es im gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmen und in der Verstandestätigkeit ist. Die wahrhaftigen geistigen Erkenntnisfähigkeiten aber führen das Seelenleben in ein Gebiet, in dem ihr größere Unabhängigkeit von der Organisation eignet als im sinnlichen Wahrnehmen und Vorstellen, und das mit dem reinen Denken bereits in der einfachsten Form betreten ist. Mit dem träumerischen, halbbewussten Seelenleben der falschen Mystik hat die Erkenntnistätigkeit, durch die ich die «Geisteswissenschaft» errichtet denke, nichts gemein. Leider verwechseln die Gegner und auch diejenigen, welche Anhänger dieser Geisteswissenschaft sein wollen, diese nur allzuoft mit der falschen Mystik, obwohl diese Verwechslung diejenige einer Sache mit ihrem Gegenteile ist. Wer nicht an Worten klebt und aus Worten willkürliche Entstellungen drechselt, der wird in meinen Schriften überall ersehen, wo ich auf das relativ Berechtigte der Definition der Mystik abziele, und wo ich die Verworrenheiten falscher Mystik ablehne.
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