Rudolf Steiner: Dem abstrakten Denken verdankt der Mensch sein Erleben der Freiheit

 

Aus Nummer 215 S. 42 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe.

Ein Zweites, das der Mensch diesem Aufschwünge zum abstrakten Denken verdankt, ist sein Erleben der Freiheit. Was man als moralische Impulse erlebt durch Imagination, Inspiration und Intuition, auch wenn man es so erlebt wie in alten Zeiten, traumhaft – wo es immer durch die Träume, die Instinkte und Emotionen des Organismus erlebt wurde, indem es ein Impuls zum Handeln wurde -, das übt immer auf den Menschen einen Zwang aus. Was immer man seinem Organismus als Trieb in seinem Handeln zugrunde legen muss, das treibt einen, zwingt einen da- und dorthin. Und das, was aus einer wirklichen ätherischen Welt herausgeholt wird in der Imagination als moralische Impulse, das zwingt mich; man kann nicht anders, als ihnen folgen. 

Ebenso ist es mit dem, was aus der Inspiration und aus der Intuition stammt. Nimmt aber der Mensch, indem er zwischen Geburt und Tod das Scheinleben des abstrakten Denkens erlebt – des reinen Denkens, das nichts ist als Denken, aber das durch den physischen Organismus ausgeführt wird -, nimmt er in dieses Denken die moralischen Impulse herein, so leben diese in dem reinen Denken, das nur ein Scheinleben hat und zu nichts zwingen kann, das ebensowenig zu etwas zwingen kann, wie Spiegelbilder zu etwas zwingen können. Was in der Wirklichkeit stößt, das zwingt mich; was aber bloß ein Scheinleben hat wie das, was wir im reinen Denken erleben, das kann einen Menschen nicht zwingen. Da muss ich mich selber entschließen, wenn ich ihm folgen will. Damit ist zu gleicher Zeit in diesem Schein-Erleben des Denkens die Möglichkeit der menschlichen Freiheit gegeben. Und indem moralische Impulse, die in der geistigen Welt wurzeln, hereinkommen und den Menschen erfüllen in diesem Schein erlebenden Denken, werden sie zu freien Impulsen. 

Zweierlei also verdankt der Mensch seinem Aufschwunge zu dem Schein-Erleben im Denken: das Zeitalter der objektiven Naturwissenschaft und das Erringen der wirklichen Freiheit. Diese Beziehungen habe ich, ebenso wie ich das Erheben in die übersinnlichen Welten in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», in meiner «Geheimwissenschaft» und in der «Theosophie» darstellte, so habe ich versucht, das Erringen des Freiheitsbewusstseins in der modernen Zeit in meiner «Philosophie der Freiheit» nach seiner Grundlegung hin darzustellen. So können wir sagen: In dem Zeitalter, in welchem der Mensch sein Vollbewusstsein dadurch errungen hat, dass das Denken heruntergeströmt ist bis zum physischen Organismus und sich dessen bedient, in dem Zeitalter hat dieses Denken abgelehnt das alte traumhafte Hellsehen, durch das einmal eine alte Philosophie, eine alte Kosmologie und das alte religiöse Leben begründet wurden. Der Mensch hat dadurch die Möglichkeit erlangt, in der physischen Organisation zwischen Geburt und Tod objektive Naturwissenschaft auszubilden. Er hat weiter die Möglichkeit erlangt, Freiheit auszubilden. Aber er steht heute an dem Punkt, wo er den Weg wieder beschreiten muss hinauf in die übersinnliche Welt – unter Beibehaltung seines Voll- bewusstseins – in vollbewusster Imagination, Inspiration und Intuition, um zu dem, was er in objektiver Naturwissenschaft und Freiheit erleben kann, hinzu zu erringen eine auf Erkenntnis der übersinnlichen Welt gebaute neue Philosophie, eine neue Kosmologie und ein neues religiöses Leben. Sie genügen dem modernen Menschen in derselben Weise als Offenbarung einer übersinnlichen Welt, wie er durch seine Vollbewusstheit innerhalb der sinnlichen Welt befriedigt ist durch die Erringung der objektiven Naturwissenschaft und der Freiheit. 

Damit ist auf der einen Seite durch die Kennzeichnung von Freiheit und objektiver Naturwissenschaft, auf der anderen Seite durch die Kennzeichnung einer modernen spirituellen Wissenschaft zugleich charakterisiert, wie die Menschheit aus dem gegenwärtigen Zeitalter in die Zukunft hinein fortschreiten muss  damit sie durch die Erringung einer übersinnlichen Erkenntnis sich einfügen kann in den von der Weltenordnung geforderten wahren Menschheitsfortschritt. 

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