Aus Nr. 5 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 18:
Auch die patriotischen Empfindungen seiner deutschen Volksgenossen sind Nietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein Empfinden und Denken nicht abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes, innerhalb dessen er geboren und erzogen ist; auch nicht von der Zeit, in der er lebt. «Es ist so kleinstädtisch», sagt er in seiner Schrift « Schopenhauer als Erzieher»,« sich zu Ansichten verpflichten, welche ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient und Okzident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsre Augen hinmalt, um unsere Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern, dass zufällig zwei Nationen sich hassen und bekriegen, oder dass ein Meer zwischen zwei Erdteilen liegt, oder dass rings um sie eine Religion gelehrt wird, welche doch vor ein paar tausend Jahren nicht bestand.»
Die Empfindungen der Deutschen während des Krieges im Jahre 1870 fanden in seiner Seele einen so geringen Widerhall, dass er, «während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggingen», in einem Winkel der Alpen saß, «sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich», und seine Gedanken über die Griechen niederschrieb. Und als er einige Wochen darauf sich selbst «unter den Mauern von Mete» befand, war er «immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen», die er zum Leben und «der griechischen Kunst gesetzt hatte». (Vgl. «Versuch einer Selbstkritik» in der zweiten Auflage seiner «Geburt der Tragödie»,). Als der Krieg zu Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung seiner deutschen Zeitgenossen über den errungenen Sieg ein, dass er schon im Jahre 1873 in seiner Schrift über David Strauß von den «schlimmen und gefährlichen Folgen» des siegreich beendeten Kampfes sprach. Er stellte es sogar als einen Wahn hin, dass auch die deutsche Kultur in diesem Kampfe gesiegt habe, und er nannte diesen Wahn gefährlich, weil, wenn er innerhalb des deutschen Volkes herrschend wird, die Gefahr vorhanden ist, den Sieg «in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches.» Das ist Nietzsches Gesinnung in einer Zeit, in der ganz Europa voll ist von nationaler Begeisterung. Es ist die Gesinnung einer unzeitgemäßen Persönlichkeit, eines Kämpfers gegen seine Zeit. Außer dem Angeführten ließe sich noch vieles nennen, was in Nietzsches Empfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in dem seiner Zeitgenossen.
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