Aus Nr. 196 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 118 (Hervorhebungen IH):
Nun frage ich Sie – und jetzt komme ich auf meine Zeitbetrachtung zurück -: Kann dasjenige, was Religionsbekenntnisse und Theologie aus dem Mysterium von Golgatha nach und nach gemacht haben, dem Menschen diesen Hinblick noch geben ? – Nein, das ist unmöglich! Auch Theologie und Religionsbekenntnisse sind vermaterialisiert. Aber ein materialisiertes Mysterium von Golgatha reicht in seiner Bedeutung über das Erdendasein nicht hinaus. Wer es heute ernst meint mit dem Christentum – ich habe das von andern Gesichtspunkten aus Ihnen dargelegt, Sie haben es heute von einem erneuten Gesichtspunkte aus wiederum gehört -, der kann gar nicht anders, als ein spirituelles Verständnis zu suchen für dieses Mysterium von Golgatha.
Das heißt aber mit andern Worten: Geisteswissenschaft, wirkliche Erkenntnis des Geistes ist heute der Menschheit notwendig. Ohnmächtig waren die Leute vor fünfzig Jahren, so habe ich am Anfang meiner heutigen Betrachtung gesagt, ihren Ideal-Realismus mit irgend etwas auszufüllen, das Wirklichkeit gehabt hätte. Daher das Hineinsegeln in das europäische Unglück (des Ersten Weltkrieges; Anmerkung: IH). Aber heute entsteht die Frage: Wollen diejenigen, die ein neues Unglück abwenden können, da wo Geisteswissenschaft heute spricht, wiederum so weiterleben, wie diejenigen, zu denen Geisteswissenschaft noch nicht gesprochen hat, vor fünfzig Jahren leben mussten ? – Dann allerdings werden Erdenkatastrophen kommen, gegen die das, was jetzt geschehen ist, eine Kleinigkeit ist. –
Anmerkung IH: Und die kamen ja dann auch, erstmal „nur“ in Gestalt des Zweiten Weltkrieges – aber wer weiß, was sonst noch alles auf uns zurollt heute. –
Es geht heute nicht an, anderes als dieses sich zu sagen. Wenn die Menschen vor fünfzig Jahren ein neues Geistesleben gefordert haben, so haben sie es nicht schaffen können, weil dazumal noch nicht die Zeit dazu gekommen war. Heute ist die Zeit dazu gekommen. Heute heißt, sich nicht hinwenden zu wollen zu diesem Geistesleben: es nicht ehrlich meinen mit der Menschheitsentwickelung! – Das ist die Verantwortlichkeit, von der ich sprechen muss, von der heute gesprochen werden muss, namentlich nach denjenigen Seiten hin, die heute diese Verantwortung übernehmen können aus den schon angeführten Gründen. Der Mensch muss heute auf den Horizont der weltgeschichtlichen Betrachtung hinschauen. Er kann nicht sein Dasein zurückschrauben. Denken Sie sich, Sie haben einen Schrank. Der Schrank bricht auseinander. Sie haben seine Stücke vor sich, Sie schauen sich das an. Durch irgendein Elementarereignis ist der Schrank auseinandergebrochen, Sie haben seine Stücke vor sich. Was machen Sie? Sie nehmen die Stücke, nehmen Nägel, fügen die Stücke zusammen, damit daraus wieder der alte Schrank entstehe. Der wird aber sehr bald wiederum auseinanderfallen, wenn die Stücke morsch sind, wenn die Nägel nicht mehr halten können oder wenn die Stücke an andern Stellen zerrissen sind. Europa ist auseinandergefallen wie ein alter Schrank: Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Serbien, Deutsch-Österreich, das ehemalige Deutschland, das ehemalige Russland, die Ukraine – das sind die Stücke, die Trümmer des Schrankes. Und die Westmächte bemühen sich, diese morsch gewordenen Trümmer des Schrankes wiederum zusammenzuschlagen mit Nägeln, die nicht halten werden. Die Menschen sehen nicht ein, dass sie es mit morsch gewordenen Stücken zu tun haben. Da soll das Alte geleimt werden, während es sich darum handelt, ganz neue Substanz in die Menschheitsentwickelung hineinzubringen. Das ist der Gedanke, um den es sich handelt. Auf diesen Gedanken kann uns heute nur Geisteswissenschaft in durchdringender Weise aufmerksam machen. Und die Frage ist: Soll denn die Welt, nachdem das, was heute Europa ergriffen hat, was sehr bald Asien und über Europa hinaus Amerika ergreifen wird, bloß aus ihren alten morschen Stücken zusammengeleimt und zusammengenagelt werden um der Bequemlichkeit der Menschheit willen, oder soll der Zusammenhang gesucht werden zu einer Erneuerung des ganzen Menschenwesens aus dem Geistigen heraus?
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