Aus Nr. 4, S. 84 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe:
Wenn die Dinge unserer Erfahrung Vorstellungen wären, dann gliche unser alltägliches Leben einem Traume und die Erkenntnis des wahren Tatbestandes dem Erwachen. Auch unsere Traumbilder interessieren uns so lange, als wir träumen, folglich die Traumnatur nicht durchschauen. In dem Augenblicke des Erwachens fragen wir nicht mehr nach dem inneren Zusammenhange unserer Traumbilder, sondern nach den physikalischen, physiologischen und psychologischen Vorgängen, die ihnen zum Grunde liegen. Ebensowenig kann sich der Philosoph, der die Welt für seine Vorstellung hält, für den inneren Zusammenhang der Einzelheiten in derselben interessieren. Falls er überhaupt ein seiendes Ich gelten lässt, dann wird er nicht fragen, wie hängt eine seiner Vorstellungen mit einer anderen zusammen, sondern was geht in der von ihm unabhängigen Seele vor, während sein Bewusstsein einen bestimmten Vorstellungsablauf enthält. Wenn ich träume, dass ich Wein trinke, der mir ein Brennen im Kehlkopf verursache und dann mit Hustenreiz aufwache (vergleiche Weygandt, Entstehung der Träume, 1893), so hört im Augenblicke des Erwachens die Traumhandlung auf, für mich ein Interesse zu haben. Mein Augenmerk ist nur noch auf die physiologischen und psychologischen Prozesse gerichtet, durch die der Hustenreiz sich symbolisch in dem Traumbilde zum Ausdruck bringt. In ähnlicher Weise muss der Philosoph, sobald er von dem Vorstellungscharakter der gegebenen Welt überzeugt ist, von dieser sofort auf die dahinter steckende wirkliche Seele überspringen. Schlimmer steht die Sache allerdings, wenn der Illusionismus das Ich an sich hinter den Vorstellungen ganz leugnet, oder es wenigstens für unerkennbar hält. Zu einer solchen Ansicht kann sehr leicht die Beobachtung führen, dass es dem Träumen gegenüber zwar den Zustand des Wachens gibt, in dem wir Gelegenheit haben, die Träume zu durchschauen und auf reale Verhältnisse zu beziehen, dass wir aber keinen zu dem wachen Bewusstseinsleben in einem ähnlichen Verhältnisse stehenden Zustand haben. Wer zu dieser Ansicht sich bekennt, dem geht die Einsicht ab, dass es etwas gibt, das sich in der Tat zum bloßen Wahrnehmen verhält wie das Erfahren im wachen Zustande zum Träumen. Dieses Etwas ist das Denken.
Dem naiven Menschen kann der Mangel an Einsicht, auf den hier gedeutet wird, nicht angerechnet werden. Er gibt sich dem Leben hin und hält die Dinge so für wirklich, wie sie sich ihm in der Erfahrung darbieten. Der erste Schritt aber, der über diesen Standpunkt hinaus unternommen wird, kann nur in der Frage bestehen: wie verhält sich das Denken zur Wahrnehmung? Ganz einerlei, ob die Wahrnehmung in der mir gegebenen Gestalt vor und nach meinem Vorstellen weiterbesteht oder nicht: wenn ich irgend etwas über sie aussagen will, so kann es nur mit Hilfe des Denkens geschehen. Wenn ich sage: die Welt ist meine Vorstellung, so habe ich das Ergebnis eines Denkprozesses ausgesprochen, und wenn mein Denken auf die Welt nicht anwendbar ist, so ist dieses Ergebnis ein Irrtum. Zwischen die Wahrnehmung und jede Art von Aussage über dieselbe schiebt sich das Denken ein.
Den Grund, warum das Denken bei der Betrachtung der Dinge zumeist übersehen wird, haben wir bereits angegeben (vergleiche Seite 42 f.). Er liegt in dem Umstände, dass wir nur auf den Gegenstand, über den wir denken, nicht aber zugleich auf das Denken unsere Aufmerksamkeit richten. Das naive Bewusstsein behandelt daher das Denken wie etwas, das mit den Dingen nichts zu tun hat, sondern ganz abseits von denselben steht und seine Betrachtungen über die Welt anstellt. Das Bild, das der Denker von den Erscheinungen der Welt entwirft, gilt nicht als etwas, was zu den Dingen gehört, sondern als ein nur im Kopfe des Menschen existierendes; die Welt ist auch fertig ohne dieses Bild. Die Welt ist fix und fertig in allen ihren Substanzen und Kräften; und von dieser fertigen Welt entwirft der Mensch ein Bild. Die so denken, muss man nur fragen: mit welchem Rechte erklärt ihr die Welt für fertig, ohne das Denken? Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Kopfe des Menschen hervor, wie die Blüte an der Pflanze? Pflanzet ein Samenkorn in den Boden. Es treibt Wurzel und Stengel. Es entfaltet sich zu Blättern und Blüten. Stellet die Pflanze euch selbst gegenüber. Sie verbindet sich in eurer Seele mit einem bestimmten Begriffe. Warum gehört dieser Begriff weniger zur ganzen Pflanze als Blatt und Blüte? Ihr saget: die Blätter und Blüten sind ohne ein wahrnehmendes Subjekt da; der Begriff erscheint erst, wenn sich der Mensch der Pflanze gegenüberstellt. Ganz wohl. Aber auch Blüten und Blätter entstehen an der Pflanze nur, wenn Erde da ist, in die der Keim gelegt werden kann, wenn Licht und Luft da sind, in denen sich Blätter und Blüten entfalten können. Gerade so entsteht der Begriff der Pflanze, wenn ein denkendes Bewusstsein an die Pflanze herantritt.
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