Durch das reine Denken der „Philosophie der Freiheit“ in die reale geistige Welt von Imagination, Inspiration und Intuition?

 

von Ingo Hagel

 

Auch gemäß diesen Ausführungen Rudolf Steiners hier aus seinen drei Vorträgen zur Philosophie des Scholastikers Thomas von Aquin könnte man – mal wieder – versucht sein zu fragen, ob man denn durch die „Philosophie der Freiheit“ in die reale geistige Welt – 

also die Welt von von Imagination, Inspiration und Intuition – 

kommt. Denn Rudolf Steiner führt mit Blick auf deren ethischen Individualismus dort aus (GA 74 S. 99):    

Er baut auf dasjenige, was der Mensch sich erringt als Freiheit, indem er umwandelt das gewöhnliche Denken in dasjenige, was in meiner «Philosophie der Freiheit» das reine Denken genannt wird, das sich erhebt in die geistige Welt und herausgebiert aus der geistigen Welt die Antriebe für die moralischen Handlungen, sie herausgebiert dadurch, daß sich etwas, was sonst an die menschliche Leiblichkeit gebunden ist, der Impuls der Liebe, heraufspiritualisiert. Und indem die sittlichen Ideale aus der geistigen Welt durch die moralische Phantasie entlehnt werden, äußern sie sich in ihrer Kraft, werden die Kraft der geistigen Liebe. 

Man könnte daher also fragen: 

 

Wenn es doch so ist, dass der Mensch durch das reine Denken der „Philosophie der Freiheit“   

sich erhebt in die geistige Welt und herausgebiert aus der geistigen Welt die Antriebe für die moralischen Handlungen, …  Und indem die sittlichen Ideale aus der geistigen Welt durch die moralische Phantasie entlehnt werden, …

muss man dann nicht annehmen, dass der Mensch durch dieses reine Denken der „Philosophie der Freiheit“ in die „geistige Welt“ kommt und hellsichtig wird – beziehungsweise werden kann? Aber Rudolf Steiner kann in diesen drei Vorträgen der GA 74 zur Philosophie des Thomas von Aquin –

die im Grunde genommen nichts Anderes sind als eine umfassende, aber eben doch aus verständlichen Gründen sehr verkürzte Zusammenfassung der an so vielen anderen Stellen ausgeführten Anthroposophie – Das gilt auch für die besprochene „Philosophie der Freiheit“ – Rudolf Steiner in dieser GA 74 (S. 96):

Nur ganz kurz und ohne Berücksichtigung dessen, daß die Dinge ja, wenn man sie kurz darstellt, scheinbar schwer sind, möchte ich den Grundgedanken, der in diesen Büchern lebt, einmal vor Sie hinstellen. –

nicht alles in der Tiefe besprechen, sondern Manches nur sehr kurz anreißen. So auch diese Angelegenheit. –

Zudem hat Rudolf Steiner das teilweise bereits längst besprochen – siehe unten. –    

 

Durch das reine Denken der „Philosophie der Freiheit“ kann man sich in die geistige Welt erheben,

aber eben nur in „einer rein philosophischen Form“: 

Auf diese Weise tritt einem des Menschen Beziehung zur geistigen Welt vor die Seele zunächst in einer rein philosophischen Form. Und wer nun meine «Philosophie der Freiheit», die ganz ruht auf diesen erkenntnistheoretischen Untergründen von der Erarbeitung der Wirklichkeit, von dem Hineinleben in die Wirklichkeit durch die menschliche Erkenntnis -,    Diesem Problem der Individualität kommt man nun nahe auf ethischem Gebiete. Deshalb ist meine «Philosophie der Freiheit» das geworden, was Wirklichkeits-Philosophie ist. …

Man muss also konstatieren, dass diese reale geistige Welt –

also die von Imagination, Inspiration und Intuition –

von der man vielleicht in anderen Büchern und Ausführungen Rudolf Steiners gelesen hat und sich bereits bestimmte Vorstellungen gemacht hat, noch in einer anderen Form aufgefasst und im Bewusstsein des Menschen erscheinen kann, nämlich ersteinmal nur in „einer rein philosophischen Form“. 

 

Dieses reine Denken der „Philosophie der Freiheit“ ist zwar reines Denken – 

das heißt umgewandeltes gewöhnliches Denken, und deren ethischer Individualismus

baut auf dasjenige, was der Mensch sich erringt als Freiheit, indem er umwandelt das gewöhnliche Denken in dasjenige, was in meiner «Philosophie der Freiheit» das reine Denken genannt wird, … –    

das allerdings als solches „nur“ im „gewöhnliches Bewusstsein“ verläuft, also noch kein übersinnliches Bewusstsein im Sinne von Imagination, Inspiration und Intuition darstellt und mit sich bringt. Das führt Rudolf Steiner an den verschiedensten Stellen aus. So führt er zum Beispiel auch hier innerhalb der Vorträge für Naturwissenschaftler aus, dass das reine Denken der „Philosophie der Freiheit“ im „gewöhnlichen Bewusstsein“ verläuft (GA 322, S. 112): 

Und nun setzen wir voraus, jemand käme einfach innerhalb des gewöhnlichen Bewusstseins dazu, diese «Philosophie der Freiheit» in der Art durchzuarbeiten, wie ich das eben beschrieben habe, dann kann er natürlich nicht sagen: er sei irgendwie in der übersinnlichen Welt darinnen. Denn diese «Philosophie der Freiheit», ich habe sie ganz absichtlich so geschrieben, wie sie geschrieben ist, weil sie zunächst als ein rein philosophisches Werk vor die Welt hintreten sollte.  

Zunächst! Was die „Philosophie der Freiheit“ dann später –

nachdem man sich mit dieser Zunächst-Stufe gut bekannt gemacht hat –

mit Blick auf die realen übersinnlichen Welten von Imagination, Inspiration und Intuition werden kann, das hängt vom Leser ab, vielleicht auch von der Zeit – 

wer weiß, was zukünftige Generationen für großartige neue Empfänglichkeiten und Möglichkeiten des Verstehens und Umgehens mit dieser „Philosophie der Freiheit“ mitbringen werden – 

und muss abgewartet werden – natürlich ohne dass man heute in der eigenen geistigen Arbeit nachlässt.   

 

Aber bereits lange vor diesen Vorträgen vor Naturwissenschaftlern – 

sowie lange vor den oben zitierten Ausführungen zur Philosophie des Thomas von Aquin (GA 74) –        

wies Rudolf Steiner in seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (GA 10) darauf hin, dass innerhalb des reinen Denkens – 

das ja das geistige Niveau ist, auf dem die „Philosophie der Freiheit“ gelesen werden sollte – das allerdings auch das geistige Niveau ist, auf dem irgendwelche wirklichen, realen übersinnlichen Erkenntnisse im Sinne von „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ sich abspielen müssen, wenn diese Forschungsmethode einen Bezug zur geistigen Forschungsmethode der Anthroposophie haben soll – und wenn es gesund ablaufen soll –

noch keine übersinnlichen Erlebnisse erwartet werden können (GA 10 S. 220):

Für die hier gemeinte übersinnliche Seelenbetätigung ist es außerordentlich bedeutsam, in voller Klarheit das Erleben des reinen Denkens zu durchschauen. Denn im Grunde ist dieses Erleben selbst schon eine übersinnliche Seelenbetätigung. Nur eine solche, durch die man noch nichts Übersinnliches schaut. Man lebt mit dem reinen Denken im Übersinnlichen; aber man erlebt nur dieses auf eine übersinnliche Art; man erlebt noch nichts anderes Übersinnliches. Und das übersinnliche Erleben muß sein eine Fortsetzung desjenigen Seelen-Erlebens, das schon im Vereinigen mit dem reinen Denken erreicht werden kann. Deshalb ist es so bedeutungsvoll, diese Vereinigung richtig erfahren zu können. Denn von dem Verständnisse dieser Vereinigung aus leuchtet das Licht, das auch rechte Einsicht in das Wesen der übersinnlichen Erkenntnis bringen kann. 

 

Wer sich diese „hier gemeinte übersinnliche Seelenbetätigung“, dieses „Erleben des reinen Denkens“ 

nicht anhand des reinen Denkens der „Philosophie der Freiheit“ erarbeiten möchte, muss dies eben anhand des genannten Buches „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (GA 10) tun, wenn er den Weg der anthroposophischen übersinnlichen Forschungsmethode beschreiten will. Meine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen an anderen Menschen zeigen aber, dass man mit Blick auf diese GA 10 sehr vielen Missverständnissen und Fehleinschätzungen unterliegen kann, auf welcher geistigen Ebene sich die Bemühungen, zu denen dieses Buch anregen will, eigentlich abspielen müssen. Das hat Rudolf Steiner dann schließlich dazu geführt, diesen längeren Nachtrag in einer der vielen Neuauflagen dieses Buches anzufügen. 

 

Man vollzieht also mit dem reinen Denken der „Philosophie der Freiheit“ 

einen Akt der Freiwerdung vom Leibe, man wird leibfrei. Das geht aber nicht bis zu dem Punkt, an dem die reale geistige Welt als Imagination, Inspiration und Intuition erfahren werden kann, sondern geht eben „nur“ bis zur moralischen Phantasie –      

Siehe das Zitat zu Beginn des Artikels:

Und indem die sittlichen Ideale aus der geistigen Welt durch die moralische Phantasie entlehnt werden, äußern sie sich in ihrer Kraft, werden die Kraft der geistigen Liebe. … –

die aber – neben dem reinen Denken selber – ein Ergebnis eines ersten Hellsehens darstellt – 

aber wie gesagt: alles erst einmal rein philosophisch und in Gedankenform –

und bis zum Erfahren der Freiheit. Diese Freiheit wird hier in dieser GA 255b im Zusammenhang mit dem Freiwerden des Denkens von den Bedingungen des Leibes –

und damit der bewussten Realisierung der „übersinnlichen Natur des menschlichen Denkens“ –

so beschrieben:          

Wer nun meine «Philosophie der Freiheit» durchliest, wird finden, wie diese Wege zur Ergründung der Natur des menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und für mich stellte es sich heraus, daß nur derjenige das menschliche Denken richtig verstehen könne, welcher in den höchsten Äußerungen dieses Denkens etwas sieht, das sich unabhängig von unserer Körperlichkeit, von unserer leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Denkens im Menschen sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen vollziehen. In den leiblichen Vorgängen walten Naturnotwendigkeiten. Was aus diesen leiblichen Vorgängen hervorgeht an trüben Instinkten, an Willensimpulsen und so weiter, es ist in einer gewissen Beziehung naturnotwendig bestimmt. Was der Mensch in seinem Denken vollzieht, von dem stellt sich zuletzt doch heraus, daß es ein Vorgang ist, der unabhängig von der physischen Organisation des Menschen abläuft. Und ich glaube, daß sich mir durch diese «Philosophie der Freiheit» nichts Geringeres ergeben hat als die übersinnliche Natur des menschlichen Denkens. Und hatte man diese übersinnliche Natur des menschlichen Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert, daß der Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts anderes als durch die Motive des Denkens selbst bestimmt wird, daß er dann ein übersinnliches Element in diesem Denken vor sich hat. Richtet er sich dann im Leben nach diesem Denken, entwickelt er sich so, wird er so erzogen, daß er über die Motive seiner physischen Organisation, über Triebe, Emotionen, Instinkte hinaus Motive des reinen Denkens seinen Handlungen zugrunde legt, dann darf er ein freies Wesen genannt werden. Den Zusammenhang zwischen dem übersinnlich reinen Denken und der Freiheit darzulegen, das machte ich mir dazumal zur Aufgabe. 

Ich habe 1911 auf dem Philosophenkongreß in Bologna auf eine ganz philosophische Weise auseinandergesetzt, daß schon das reine Denken etwas ist, was im Menschen vollzogen wird, ohne daß die Leibesorganisation daran Anteil hat. Und ich habe hier in einer großen Anzahl von Vorträgen dieses von den verschiedensten Seiten her bekräftigt.

 

Das leibfreie Denken der „Philosophie der Freiheit“ ist also ein Mittel, 

was den Menschen über Dasjenige ihn ihm, was an 

trüben Instinkten, an Willensimpulsen und so weiter

ganz natürlich vorhanden ist, hinaus- und zur Freiheit kommen lässt. –

Und zwar „im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur erhebt zum wirklichen Denken“ … –

Diese „trüben Instinkte“ und so weiter werden nicht direkt vernichtet oder einfach unterdrückt. –

Auch wenn selbstverständlich mit der Zeit mit dem Menschen, der sich mit solchen geistigen Angelegenheiten, das heißt mit solchen „höchsten Äußerungen dieses Denkens“ beschäftigt, zu ihnen strebt, indem er daher die Antriebe seines Handelns „heraufspiritualisiert“, sich etwas vollzieht, das man allerdings eine Verlagerung seiner Interessen nennen könnte. – 

Sie werden nur für den Zeitraum, in dem der Mensch sich innerhalb dieses reinen Denkens zu freien Impulsen aufschwingt, zurückgedrängt, so dass der Mensch unabhängig und befreit von ihnen zu Impulsen des Handelns kommen kann:

Richtet er sich dann im Leben nach diesem Denken, entwickelt er sich so, wird er so erzogen, daß er über die Motive seiner physischen Organisation, über Triebe, Emotionen, Instinkte hinaus Motive des reinen Denkens seinen Handlungen zugrunde legt, dann darf er ein freies Wesen genannt werden.

  

Hat man sich dann anhand der „Philosophie der Freiheit“ diese Art des reinen Denkens angeeignet, 

hat man sich an dieser Erarbeitung innerlich in einer Art geistigen Trockenschwimmens schon mal so gekräftigt, dass man sich mit diesem reinen Denken zwar in der geistigen Welt befindet –

aber erst einmal nur in rein philosophischer und in Ideenform – und: innerhalb des gewöhnlichen Bewusstseins –

hat man sich mit seinen Impulsen des Handelns durch diesen ethischen Individualismus der „Philosophie der Freiheit“ so verbinden können, dass man seine Impulse und Ziele des Handelns liebt, weil sie Einem nichts Äußeres, Aufgedrängtes mehr sind, sondern weil man selber der freie Schöpfer dieser Impulse und Ziele ist, dann hat man damit auch die beste und solideste Grundlage geschaffen, um in die wirkliche reale geistige Welt von Imagination, Inspiration und Intuition zu kommen:  

Man kann nun den Versuch anstellen, ob der Mensch außer dem reinen Denken noch fähig ist, eine solche Tätigkeit zu entfalten, welche nach dem Muster dieses reinen Denkens ist. Wer dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner anthroposophischen Geisteswissenschaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhnliche reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe qualitativ keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und demjenigen, was ich als Hellsehen bezeichne.

Geradeso, wie aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch und im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft» die Stufen der höheren Erkenntnis – also Imagination, Inspiration, Intuition – genannt habe.

Mit den hier dargestellten Hinweisen zeigt sich also auch mal wieder, dass die „Philosophie der Freiheit“ die wissenschaftliche Grundlage für alles ist, was Rudolf Steiner danach als Anthroposophie dargestellt hat. 

 

 

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GA 255b Seite: 299               

Wer nun meine «Philosophie der Freiheit» durchliest, wird finden, wie diese Wege zur Ergründung der Natur des menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und für mich stellte es sich heraus, daß nur derjenige das menschliche Denken richtig verstehen könne, welcher in den höchsten Äußerungen dieses Denkens etwas sieht, das sich unabhängig von unserer Körperlichkeit, von unserer leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Denkens im Menschen sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen vollziehen. In den leiblichen Vorgängen walten Naturnotwendigkeiten. Was aus diesen leiblichen Vorgängen hervorgeht an trüben Instinkten, an Willensimpulsen und so weiter, es ist in einer gewissen Beziehung naturnotwendig bestimmt. Was der Mensch in seinem Denken vollzieht, von dem stellt sich zuletzt doch heraus, daß es ein Vorgang ist, der unabhängig von der physischen Organisation des Menschen abläuft. Und ich glaube, daß sich mir durch diese «Philosophie der Freiheit» nichts Geringeres ergeben hat als die übersinnliche Natur des menschlichen Denkens. Und hatte man diese übersinnliche Natur des menschlichen Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert, daß der Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts anderes als durch die Motive des Denkens selbst bestimmt wird, daß er dann ein übersinnliches Element in diesem Denken vor sich hat. Richtet er sich dann im Leben nach diesem Denken, entwickelt er sich so, wird er so erzogen, daß er über die Motive seiner physischen Organisation, über Triebe, Emotionen, Instinkte hinaus Motive des reinen Denkens seinen Handlungen zugrunde legt, dann darf er ein freies Wesen genannt werden. Den Zusammenhang zwischen dem übersinnlich reinen Denken und der Freiheit darzulegen, das machte ich mir dazumal zur Aufgabe.

Man kann nun dabei stehenbleiben, einen solchen Gedankengang bloß theoretisch zu verfolgen. Wenn man aber einen solchen Gedankengang nicht bloß theoretisch verfolgt, sondern wenn er einem Erfüllung des ganzen Lebens wird, wenn man in ihm geradezu eine Offenbarung der menschlichen Natur selber sieht, dann verfolgt man ihn nicht bloß theoretisch weiter, dann verfolgt man ihn praktisch weiter. Was ist dieses praktische Weiterverfolgen? Nun, man lernt erkennen – hat man einmal die übersinnliche Natur des Denkens erfaßt -, daß der Mensch imstande ist, sich in einer gewissen Betätigung unabhängig von seiner Leibesorganisation zu machen. Man kann nun den Versuch anstellen, ob der Mensch außer dem reinen Denken noch fähig ist, eine solche Tätigkeit zu entfalten, welche nach dem Muster dieses reinen Denkens ist. Wer dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner anthroposophischen Geisteswissenschaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhnliche reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe qualitativ keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und demjenigen, was ich als Hellsehen bezeichne. Ich sehe die Sache so, daß der Mensch sich zuerst an dem Vorgang des reinen Denkens eine Praxis heranbilden kann, wie man in seinen inneren Vorgängen unabhängig wird von seiner Leibesorganisation, wie man in dem reinen Denken etwas vollführt, woran der Leib keinen Anteil hat. 

Ich habe 1911 auf dem Philosophenkongreß in Bologna auf eine ganz philosophische Weise auseinandergesetzt, daß schon das reine Denken etwas ist, was im Menschen vollzogen wird, ohne daß die Leibesorganisation daran Anteil hat. Und ich habe hier in einer großen Anzahl von Vorträgen dieses von den verschiedensten Seiten her bekräftigt.

Dann aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu solchem reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in der verschiedensten Weise als Erkenntnismethode für die höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in meiner «Geheimwissenschaft». Geradeso, wie aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch und im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft» die Stufen der höheren Erkenntnis – also Imagination, Inspiration, Intuition – genannt habe. 

Was sich im reinen Denken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen dadurch, daß wir geboren sind; es ist uns in unserem jetzigen Stadium der Menschheitsentwicklung vererbt. Dasjenige, was nach dem Muster dieses reinen Denkens auftreten kann als Imagination, Inspiration, Intuition, das muß ebenso heranerzogen werden durch den erwachsenen Menschen, wie gewisse Fähigkeiten naturgemäß heranerzogen werden beim Kind.