von Ingo Hagel
Am 15. Oktober 2011 fuhren wir zur Demonstration vor der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt. Bereits davor gab es dazu hinsichtlich der Undifferenziertheit der politischen Forderungen kritische Stimmen. Jürgen Elsässer schrieb:
Ein typisches Beispiel ist die in Frankfurt vor der EZB geplante Demo, die eine der größten werden dürfte. Der Forderungskatalog findet sich hier. Da ist ja manches richtige drin, anderes ist sehr verschwurbelt formuliert. Das Hauptproblem ist aber, dass im wichtigsten Punkt, bei der Euro-Frage, die Unklarheit umkippt in direkte Unterstützung des Bankster-Systems: „Eine europäische Währung sozial sichern.“ Das ist die Unterstützung des Euro-Systems! Das Euro-System aber ist der zentrale Transfermechanismus, der Steuergelder aus den Mitgliedstaaten in die Kassen der Banken umverteilt, das zentrale Instrument der Finanz-Oligarchie. ….
Oliver Janich hält die Occupy-Bewegung sogar für eine planvoll gesteuerte „künstliche Opposition der Neuen Weltordnung“
Eines vorab: Ich meine nicht, dass jeder, der dort mitmacht, ein Idiot ist. Viele haben berechtigte Zweifel am System und wollen einfach etwas tun. Man kann auch nicht von jedem, der auf die Straße geht, verlangen, dass er erstmal unzählige Bücher über das Geldsystem liest. Aber von den Rädelsführern und denen, die sich ins Fernsehen einladen lassen, darf man das schon verlangen. Es ist immer schwer zu unterscheiden, ob etwas aus böser Absicht oder aus Dummheit geschieht. …. Stimmen die Abgeordneten der Ausplünderung Deutschlands zu, weil sie irgendjemand in der Hand hat, oder sind sie so doof? Wer weiß das schon? Im Falle der Occupy-Bewegung ist es ähnlich. ….
Von einer Massenbewegung kann bis jetzt nicht gesprochen werden.
In Frankfurt angekommen war der große Platz vor der EZB mäßig gefüllt. Der Spiegel sprach von etwa 5000 Menschen, was zutreffend gewesen sein dürfte.
Dabei leben in Frankfurt selber doch 692.500 Einwohner, und in der engeren Region um die Stadt etwa 1,8 Millionen, im gesamten Rhein-Main-Gebiet leben und arbeiten 5,8 Millionen Einwohner.
In Köln zogen nach Polizeiangaben rund 1500 Demonstranten durch die Innenstadt, ebenso in Stuttgart. In München und Hamburg machten jeweils rund 1000 Menschen ihrem Unmut Luft.
meldete die Financial Times Deutschland. Und der Spiegel schrieb:
„Wir sind 99 Prozent“ lautete der Slogan, der am Samstag die Menschen weltweit gegen die Bankenbranche auf die Straße bringen sollte. Doch in Frankfurt versammelten sich gerade mal 5000, in anderen Städten waren es noch weniger. ….
und so titelte der Spiegel spöttisch aber leider zutreffend:
Diese Zahlen zeugen nicht von einem großen Interesse der Menschen an einer Thematik, von deren Entwicklung die Zukunft Aller abhängt. Man kann sich fragen, woher diese innere Lähmung der Menschen rührt. Aber darauf möchte ich hier nicht eingehen.
Auf der anderen Seite zeugten viele Parolen auf den Transparenten der Frankfurter Demo auch nicht von großem Sachverstand mit Blick auf die finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und der Welt, was ebenfalls ein Hindernis für ein Einverständnis der Menschen mit den politische Zielen der Bewegung darstellt und einen Konsens sowie eine Massenbewegung innerhalb der Gesellschaft verhindert.
Da gab es ein schüchtern ermahnendes
Ihr verzockt unsere Zukunft
zu lesen, wohl mit Blick auf die Finanzjongleure der Welt, die die Welt mit ihren Finanzprodukten (Derivaten, Credit Default Swaps etc.) überrumpelt hat. Aber von freundlichen Appellen werden sich die Bankster kaum beeindrucken lassen. Und letztlich liegt das Versagen ja bei unserem bankrotten Parlamentarismus, der die Finanzindustrie gewähren lässt und daher reformiert gehört.
Keine öffentlichen Gelder für private Verluste
Hätte man das anders formuliert, könnte diese Parole ebenfalls als Rücktrittsforderung an die deutsche Regierung verstanden werden. Denn diese hatte am 29. Oktober 2011 (mit Kanzlermehrheit!) für den zweiten Eurorettungsschirm gestimmt – und damit eben für die Rettung der Banken durch den Steuerzahler – anstatt dass man die Banken mit ihren Zockerschulden einfach in die Insolvenz gehen lässt. Aber welche Partei soll dann gewählt werden? Wir haben ja im Bundestag keine Opposition, wie der Staatsrechtler Prof. Schachtschneider richtig bemerkte. Denn auch die SPD und die Grünen (einzig der grüne Abgeordnete Hans-Christian Ströbele stimmte gegen den EFSF; hier seine Begründung dazu) stimmten am 29. Oktober mit der Regierung für dieses Eurorettungspaket. Nur die Linke stimmte dagegen.
Gegen die Finanzdiktatur der EU, aber im Herzen für Europa
lautete ein weiteres Transparent. Nun gut, aber was heißt das nun konkret? Soll Deutschland aus dem Euro aussteigen oder nicht? Tatsache ist, dass dieses Europa, das die Politik dabei ist, als Transferunion zu zementieren, die Menschen in Europa gegeneinander aufbringen wird anstatt sie zu vereinen.
Hört auf zu konsumieren
meinte ein Spaßvogel…..
Ich will Negativzinsen
meinte ein anderer. Vielleicht sollte jemand mal mit ihm zu seiner Bank gehen. Das sollte doch für ihn zu machen sein. Aber eine große Bewegung des Volkes bekommen wir mit solchen Forderungen nicht.
Anstelle sinnvoller Forderungen fielen mir viele kapitalismuskritische Parolen auf.
Auf anderen Transparenten und Plakaten war zu lesen:
Kapitalismus ist organisiertes Verbrechen
Capitalism kills – kill Capitalism
Geld ist nicht die Lösung, es ist das Problem
Power to the people, not to the company
Bankraub ist eine Initiative von Dilettanten – Wahre Profis gründen eine Bank (Bertold Brecht)
Wie müde, abgegriffen und rückständig ist diese Kapitalismuskritik. Und wie wenig zugkräftig. Glaubt man wirklich, mit diesen Parolen viele Menschen zum Mitmachen überzeugen zu können? Mittlerweile haben diese doch sicher die Erfahrung gemacht, dass jedes kleinere oder größere Unternehmen eine Vorfinanzierung braucht, um realisiert zu werden – und immer wieder Kapital, um Innovationen zu verwirklichen. Auch wissen viele, dass sie von einer Bank (oder von wem auch immer) Kapital brauchen, wenn sie ihr kleines oder größeres Start-Up auf Kiel legen. Von den ungezählten Leasing-Verträgen, die so viele Menschen eingehen, um zum Beispiel ihr nächstes Auto vorzufinanzieren ganz zu schweigen. Nicht das Geld, das Kapital ist also das Problem, sondern die Art, wie damit umgegangen wird. Und so sagte schon im Jahre 1921 Rudolf Steiner in einem seiner Vorträge (GA 79) zu einer Neuordnung des sozialen Organismus mit Blick auf solche antikapitalistischen Vorstellungen:
Ich möchte nicht missverstanden werden, Sie werden von mir niemals zum Beispiel Charakteristiken des Kapitalismus hören, wie man sie heute so oft erhält, und die aus allerlei Schlagworten heraus kommen. Es ist ja so selbstverständlich, dass man es gar nicht weiter auszuführen braucht, dass im heutigen Wirtschaftsleben ohne Kapitalien gar nichts auszurichten ist, und dass das Wettern gegen den Kapitalismus eben ein wirtschaftlicher Dilettantismus ist.
Nicht das Kapital oder das Arbeiten mit Kapital zum Umsetzen unternehmerischer Ideen ist das Problem, sondern die Tatsache, dass sich das Kapital verselbständigt und sich aus einem guten und fruchtbaren Dienst innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhanges verabschiedet hat. Dies ist aber kein Fehler des Kapitals, sondern eines fehlenden Regulierungswillens, der diese ganz natürliche Wucherungstendenz des Wirtschaftslebens einzudämmen hat. Hier hat die betreffende Institution, die diese Regulierungsaufgabe innerhalb des bestehenden sozialen Zusammenhanges durchzusetzen gehabt hätte, nämlich das Parlament, der Staat, völlig versagt.
Deutschland (beziehungsweise möglichst viele andere europäische Länder) müsste und könnte auch im Alleingang die Tobinsteuer durchsetzen – sollen doch die Börsenspekulanten in jene Länder umsiedeln, die ihnen diese Finanztransaktionen ohne eine Tobinsteuer erlauben. Das wäre eine Tat, die Beispielscharakter hätte. Aber da die deutsche Regierung ja mit der Finanzindustrie paktiert und sich von dieser die Gesetze schreiben lässt, ist mit einer solchen Maßnahme nicht zu rechnen.
Eine wichtige Forderung einer neuen deutschen sozialen Bewegung wäre es daher, auf diese Tobinsteuer zu drängen, da diese einen großen Teil der Finanzspekulationen unrentabel machen würde und dadurch verhindern könnte.
Anmerkung: Finanzminister Schäuble redet zwar von der Einführung einer Tobinsteuer – aber bitte nur europaweit, das heißt: England müsste dem auch zustimmen. Schäuble könnte die politischen Zusammenhänge so gut kennen, dass er weiß: Großbritannien und die Finanzoligarchen der City of London werden sich einer Finanztransaktionssteuer immer verweigern, da dies den Untergang der von ihnen selbst erfundenen Finanzprodukte bedeuten würde. Sein Gerede von einer europaweiten Einführung der Tobinsteuer ist daher nicht ernst zu nehmen sondern als Schlaftablette aufzufassen. Die Seite Hintergrund schreibt dazu:
Und solange Schäuble auf Einigkeit in dieser Frage besteht und nicht selbst Tatsachen schafft, solange kann Großbritannien die Einführung einer solchen Steuer verhindern. Dann bleibt alles, wie es ist und der deutsche Finanzminister kann Großbritannien den „Schwarzen Peter“ zuschieben. Arbeitsteilung à la EU.
Aber mehr noch: es wäre nicht nur eine Regulierung des Finanzsektors im weitesten Sinne zu fordern (zu den Vorschlägen von u.a. Prof. Max Otte dazu s. hier), sondern es wäre überhaupt die Entflechtung der ineinander verfilzten Bereiche Staat beziehungsweise Politik und Wirtschaftsleben zu fordern.
Schließlich wäre als eine weitere Forderung einer modernen und zeitgemäßen sozialen Bewegung die Trennung von Arbeit und Einkommen aufzustellen. Menschliche Arbeit darf keine Ware mehr sein, die in einer zutiefst unwürdigen Weise wie andere Rohstoffe gemäß den Gesetzen von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt verkauft werden muss. Darauf habe ich ja schon hingewiesen hier auf Umkreis-Online im Zusammenhang mit der Lohndebatte beim Ökodiscounter Alnatura.
Es ist richtig, dass wir in einer Zeit uns befinden, in der die schädlichen Wirkungen der momentanen finanzkapitalistischen Machenschaften die freie Zukunft der Menschen verspielen. Wie gesagt, hier stehen einige Notoperationen an, damit der Patient (die Gesellschaft) nach diesem Unfall (Finanzkrise) auf dem Weg ins Krankenhaus (gesamtgesellschaftliche Neugestaltung) nicht verblute. Aber letztlich geht es mit Blick auf soziale Forderungen um mehr als um eine schale Kapitalismuskritik beziehungsweise um eine Restaurierung des wirtschaftlichen Systems auf Zustände vor der Finanzkrise, damit danach dann alles so weiter geht wie bisher. Es geht um allgemein-menschliche Perspektiven, die nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern das Rechtsleben und vor allem das Geistesleben betreffen. Rudolf Steiner hat eine solche Neugestaltung eines gesellschaftlichen Systems als Soziale Dreigliederung bereits vor über 90 Jahren beschrieben (s. zum Beispiel hier, hier, hier und hier auf Umkreis-Online).