Die Zügel fest in der Hand?

   

von Stella Hagel

 

Die Zügel fest in der Hand? 

Ich bin halb krank, will aber trotzdem die Eurythmie im Kindergarten nicht ausfallen lassen. Emma, sechs Jahre alt, hat mir an diesem Tag ein wunderschönes Bild gemalt. Ein richtig feines Pferd, das eine Kutsche zieht, und oben auf dem Kutschbock sitzt der Kutscher und hält kraftvoll die Zügel in seinen Händen. „Sehr schön ist das, liebe Emma. Das ist eine große Freude und wird mir heute viel Kraft geben.“ Ich erzähle ihnen, dass ich heute etwas schwach bin, und dass der Kutscher, der das Pferd so fest am Zügel hält, mir sicher Kraft geben wird. Emmas kleiner Bruder ist auch dabei, ein quirliger kleiner Bursche. Sie versucht, ihn wiederholt einzufangen und lässt verantwortungsvoll ihre schwesterliche Autorität über ihm walten. An einer Stelle in unserer Geschichte geben wir uns alle die Hand. Emma versucht, ihr Brüderchen zu greifen, aber dieses witscht ihr aus. Da meint sie ganz erschöpft und flehend zu mir: „Frau Hagel, Du muss ihn anfassen, ich kann ihn nicht zügeln!“ „Oh, oh“, denke ich besorgt und bemerke, wie auch Pauline, sechs Jahre alt, sich ebenfalls mütterlich aber vergeblich bemüht, ihr Brüderchen in Schach zu halten. Da bespreche ich mit der Kindergärtnerin, dass ich beim nächsten Mal die Gruppe in größere und kleinere Kinder aufteilen und mit jeder Gruppe getrennnt Eurythmie machen will. 

Die Eurythmie mit den Großen wurde sehr schön und ich freute mich schon auf die nächste Stunde mit ihnen. Wie ich dann aber wieder komme, meutert Emma entschieden und weigert sich, ihren Eurythmiekittel anzuziehen. „Aber Emma, was ist denn los?“, wundere ich mich. Emma knurrt ungehalten und mit gerunzelter Stirn. „Die Kleinen müssen nur ganz kurz Eurythmie machen. Jetzt will ich auch keine Eurythmie machen, und den Kittel ziehe ich auch nicht an.“ Bockig verschränkt sie ihre Arme vor der Brust. Ach, ich verstehe! Nun fühlen sich die Großen benachteiligt, und dabei ist doch das Gegenteil der Fall. Ich nehme Emma auf den Schoß und erkläre ihr, dass ich mit den Großen allein Eurythmie machen wollte, damit sie nicht mehr auf die Kleinen aufpassen müssen und nicht mehr von ihnen gestört würden. Da strahlt Emmas Gesichtchen beglückt auf, und alles ist in Ordnung. Flink hüpft sie hinunter von meinem Schoß und zieht sich bereitwillig ihren Eurythmiekittel an. Davon lassen sich die anderen Großen anstecken und wir können frohgemut zusammen in den Eurythmiesaal gehen. 

  

Ella versteht mich 

Ella ist erst drei Jahre alt und ganz neu im Kindergarten. Sie fällt mir sofort auf, als ich in den Raum komme, in dem die Kinder in ihren Eurythmiekleidchen im Kreise sitzend auf mich warten. Ella hat dunkelblonde Zöpfchen, freundliche, blaue Augen, ein rundes Gesichtchen, und sie strahlt eine solch liebevolle Wärme und Reife aus, dass ich sofort berührt davon bin und mich besonders wohl fühle. Wie wenn nun jemand da wäre, der mittragen will. Es klingt merkwürdig, aber so hat es sich angefühlt. Seither sitzt sie jedes Mal da und strahlt mich liebevoll an, wenn ich komme. 

Eines Tages sage ich etwas, was ich sofort bereue, weil es mir ganz unpassend vorkommt, vor Kindern etwas so zu formulieren. Ich fahre mir instinktiv mit der Hand vor den Mund und murmele erschrocken, teils laut denkend für mich, teils entschuldigend zur neben mir sitzenden Kindergärtnerin: „Ach, was sage ich da bloß. Das können die Kinder doch gar nicht verstehen.“ Dies war aber wohl nicht ganz so leise wie ich beabsichtigte herausgekommen, denn Ella, deren liebevolles Lächeln anhaltend auf mich gerichtet ist, meint mit Wärme in der Stimme: „Doch! Das verstehen wir!“