von Ingo Hagel
Man kann bei seinem Studium der Anthroposophie – nur zum Beispiel in der GA 21 – lesen:
Die abstrakte Vorstellung ist das zur Vergegenwärtigung im gewöhnlichen Bewusstsein erstorbene Wirkliche, in dem der Mensch zwar lebt bei der Sinneswahrnehmung, das aber in seinem Leben nicht bewußt wird.
Man kann diesem Satz entnehmen, dass das „Wirkliche“ zwar durchaus im „gewöhnlichen Bewusstsein“ „lebt„, aber in diesem nur als Etwas, das „erstorben“ ist. Das „Wirkliche“ existiert in diesem „gewöhnlichen Bewusstsein“ also nur als Rest von etwas Lebendigem, nur als tote, abstrakte Vorstellung – und wird Einem als reales „Wirkliches“ „in seinem Leben“ nicht bewusst, sondern nur in seinem Sterben – was der Mensch dann modernes Bewusstsein nennt.
Sehr oft stößt man in Rudolf Steiners Ausführungen auf diese Hinweise auf das „Wirkliche“ –
das sich im gewöhnlichen Bewusstsein aber nur als „abstrakt“ und „erstorben“ darstellt –
oder „die Wirklichkeit“ und so weiter. Man wird sich dann als Mensch, der doch glaubt, mit beiden Beinen in der Wirklichkeit zu stehen –
die man doch sehen und anfassen kann –
fragen, was das denn sein soll: die Wirklichkeit. Was soll denn noch wirklicher sein als diese Wirklichkeit, die wir alle zu kennen glauben? Nach einer Weile kann man dann herausfinden, dass das, was Rudolf Steiner mit dieser Wirklichkeit meint, eben das ist, was die Menschen für so absolut unwirklich halten: nämlich die geistige Welt – siehe nur zum Beispiel hier:
Denn diese Welt, die wir gewöhnlich die wirkliche nennen, ist ja, wie ich selbst in dem letzten öffentlichen Vortrage ausgeführt habe, nur ein Abbild der wirklichen Welt. Die wirkliche Welt ist die des Geistes.
Diese Welt des Geistes ist die eigentliche Realität, die Wirklichkeit, die dem zugrunde liegt,
was wir hier glauben, als Wirklichkeit mit den Sinnen um uns zu haben. Ohne diese Welt des Geistes gäbe es aber diese Sinneswelt mit all ihren mineralischen, lebendigen, beseelten und Ich-begabten Objekten mit deren chemisch-physikalischen und so weiter Eigenschaften nicht.
Die Menschen glauben weiter, sie hätten mit ihren hurtigen, aber toten und abstrakten Begriffen den Schlüssel zur Wirklichkeit in der Hand. Aber diese Begriffe sind kein Schlüssel zur Wirklichkeit, sondern nur ein Erziehungsmittel zum Denken. Die Wirklichkeit ist eben eine schaffende Macht, eine gestaltende Kraft. Die toten und abstrakten Begriffe sind aber machtlos und kraftlos. Sie können nichts bewirken. Die eigentliche Wirklichkeit muss woanders gesucht werden.
Rudolf Steiner weist auf den Wolf hin, der sein Leben lang Lämmer frisst, mit deren Substanz seinen Leib bildet und ausfüllt, aber immer Wolf bleibt und nie zum Lamm wird:
Doch wie will man im Sinne einer bloß anthropologischen Betrachtung der Wirklichkeit beikommen, auf die hiermit gedeutet wird? Was durch die Sinne der Seele vermittelt wird, das ergibt nicht den Begriff «Wolf». Was aber im gewöhnlichen Bewusstsein als dieser Begriff vorliegt, das ist sicher kein «Wirkendes». Aus der Kraft dieses Begriffes konnte doch gewiß nicht die Zusammenordnung der im Wolfe vereinigten «sinnfälligen» Materien entstehen. Die Wahrheit ist, daß Anthropologie mit dieser Frage an einem der Grenzorte ihres Erkennens ist. Anthroposophie zeigt, daß außer der Beziehung des Menschen zum Wolfe, die im «Sinnfälligen» vorhanden ist, noch eine andere besteht. Diese tritt in ihrer unmittelbaren Eigenart nicht in das gewöhnliche Bewusstsein ein.
Hat man das alles etwas eingesehen, dann könnte einen der Drang,
doch gerne – und lieber heute als morgen – in der realen, geistigen Wirklichkeit zu leben –
ist auch sicher Alles nicht nur wirklicher dort, sondern auch besser, schöner und angenehmer –
einen dazu verführen, vorschnell und völlig unvorbereitet diese Sinneswelt in seinem Bewusstsein verlassen zu wollen. Immer wieder schiebt Rudolf Steiner dann mahnende Worte ein,
dass das gesunde gewöhnliche Bewusstsein die notwendige Voraussetzung für das schauende Bewusstsein ist. Wer glaubt, ein schauendes Bewusstsein ohne das tätige gesunde gewöhnliche Bewusstsein entwickeln zu können, der irrt gar sehr. Es muß sogar das gewöhnliche normale Bewusstsein in jedem Augenblicke das schauende Bewusstsein begleiten, weil sonst dies letztere Unordnung in die menschliche Selbstbewusstheit und damit in das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit brächte. Anthroposophie kann es bei ihrer schauenden Erkenntnis nur mit einem solchen Bewusstsein, nicht aber mit irgend einer Herabstimmung des gewöhnlichen Bewusstseins zu tun haben.
Immer wieder schiebt Rudolf Steiner dann aber auch einen wirklichen (!), gesunden und
gesundenden Aufschließe- und Eröffnungsschlüssel –
ich könnte auch sagen: einen heilsamen Riegel –erstmal, der wird das Schloss bei angemessener Verwendung und sachgemäßen Gebrauch schon öffnen –
vor dieses zwar verständliche, aber doch illusionistische und gefährliche Begehren eines unvorbereiteten Betretens irgendwelcher geistiger Welten, indem er auf seine „Philosophie der Freiheit“ hinweist, die dem Wirklichkeitssucher sagt: Lerne doch erst einmal „des Menschen Beziehung zur geistigen Welt … in einer rein philosophischen Form“ denken (GA 74 S. 98):
Auf diese Weise tritt einem des Menschen Beziehung zur geistigen Welt vor die Seele zunächst in einer rein philosophischen Form. Und wer nun meine «Philosophie der Freiheit», die ganz ruht auf diesen erkenntnistheoretischen Untergründen von der Erarbeitung der Wirklichkeit, von dem Hineinleben in die Wirklichkeit durch die menschliche Erkenntnis -, … Diesem Problem der Individualität kommt man nun nahe auf ethischem Gebiete. Deshalb ist meine «Philosophie der Freiheit» das geworden, was Wirklichkeits-Philosophie ist. …
Kann man das alles verstehen?
Aber das ist nicht nur Etwas zum Verstehen. Es muss auch erlebt werden. Und zu diesem Erleben muss man sich erst lange und langsam und mühsam hinarbeiten – wenn man will. Denn das gewöhnliche Bewusstsein mit seinen toten und abstrakten Vorstellungen ist zu einem Verstehen dieser Dinge nicht geeignet – es ist aber dazu geeignet, in der Beschäftigung mit diesen Dingen wachsen und reifen zu können. Es muss sich also an einem Abarbeiten an diesen Dingen verwandeln, es muss lebendiger und geschmeidiger werden. Dieses gewöhnliche Bewusstsein bleibt dann immer noch gewöhnliches Bewusstsein – wird aber als ein solches verstärktes, gekräftigtes gewöhnliches Bewusstsein die beste Grundlage zum Beschreiten und Aufsuchen der realen geistigen Wirklichkeit. –
Diese Rubrik „Anthroposophie“ –
zu derem gerade entstehendem Kapitelverzeichnis siehe hier –
möchte dazu Hinweise, Gelegenheiten und Anlässe geben, über Dieses oder Jenes etwas vertiefter nachzudenken, als man das ansonsten in seinem Leben gewöhnlich tut. –
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Falls Ihnen dieser Artikel jedoch unverständlich, unangebracht, spinnig oder sogar „esoterisch“ vorkommt, gibt es vorerst wohl nur eines:
GA 74 S. 98
Auf diese Weise tritt einem des Menschen Beziehung zur geistigen Welt vor die Seele zunächst in einer rein philosophischen Form. Und wer nun meine «Philosophie der Freiheit», die ganz ruht auf diesen erkenntnistheoretischen Untergründen von der Erarbeitung der Wirklichkeit, von dem Hineinleben in die Wirklichkeit durch die menschliche Erkenntnis -, wer diesen Grundgedanken in sich aufnimmt, der schon in dem Titel der Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» ausgedrückt ist: daß die wirkliche Wissenschaft Wahrnehmungen und Ideenwelt miteinander vereinigt und in diesem Vereinigen nicht bloß ein Ideelles, sondern einen realen Prozeß sieht, wer nun etwas von einem Weltprozeß sehen kann in diesem Vereinigen von Wahrnehmungs- und Ideenwelt, der steht dabei, den Kantianismus zu überwinden, der steht aber auch dabei, nun endlich fertigzuwerden mit dem Problem, das wir haben aufgehen sehen in der abendländischen Entwickelung, das den Nominalismus hervorgebracht hat, das in der Scholastik manche Lichter geworfen hat im 13. Jahrhundert, das aber zuletzt ohnmächtig gegenüberstand der Scheidung in Wahrnehmung und in Ideenwelt.
Diesem Problem der Individualität kommt man nun nahe auf ethischem Gebiete. Deshalb ist meine «Philosophie der Freiheit» das geworden, was Wirklichkeits-Philosophie ist. Indem das Erkennen nicht bloß ein formaler Akt ist, indem das Erkennen selber ein Wirklichkeitsprozeß ist, stellt sich das ethische, das moralische Handeln als ein Ausfluß desjenigen dar, was in diesem Werden in einem realen Prozeß das Individuum erlebt durch die moralische Phantasie als Intuition. Und es entsteht das, was im zweiten Teil meiner «Philosophie der Freiheit» dargestellt ist, der ethische Individualismus, der nun tatsächlich baut, wenn das auch in meiner «Philosophie der Freiheit» nicht ausgesprochen ist, auf den Christus-Impuls im Menschen. Er baut auf dasjenige, was der Mensch sich erringt als Freiheit, indem er umwandelt das gewöhnliche Denken in dasjenige, was in meiner «Philosophie der Freiheit» das reine Denken genannt wird, das sich erhebt in die geistige Welt und herausgebiert aus der geistigen Welt die Antriebe für die moralischen Handlungen, sie herausgebiert dadurch, daß sich etwas, was sonst an die menschliche Leiblichkeit gebunden ist, der Impuls der Liebe, heraufspiritualisiert. Und indem die sittlichen Ideale aus der geistigen Welt durch die moralische Phantasie entlehnt werden, äußern sie sich in ihrer Kraft, werden die Kraft der geistigen Liebe.
Daher mußte entgegengehalten werden dem Philisterprinzip Kants: Pflicht! Du erhabener Name, der du nichts von Schmeichelei bei dir führst, sondern strenge Unterwerfung forderst – diesem Philisterprinzip, gegen das sich Schiller schon aufgelehnt hat -, dem mußte die «Philosophie der Freiheit» entgegensetzen das umgewandelte Ich, das hinauf sich entwickelt hat in die Sphäre der Geistigkeit und oben in der Sphäre der Geistigkeit anfängt, die Tugend zu lieben, und deshalb die Tugend übt, weil es sie aus der Individualität heraus liebt.
So stellte sich auch das, was für Kant ein bloßer Glaubensinhalt geblieben ist, als ein realer Welteninhalt dar. Denn für Kant ist die Erkenntnis etwas Formales, für die «Philosophie der Freiheit» etwas Reales. Es ist ein wirklicher Prozeß, der vorgeht. Daher ist auch dasjenige, was die höhere Sittlichkeit ist, durch sie verknüpft zu einer Realität, aber zu einer Realität, welche Wertphilosophen wie Windelband und Rickert durchaus nicht erreichen, indem sie nicht daraufkommen, wie das, was sittlich wertvoll ist, eingewurzelt ist in der Welt. Selbstverständlich, diejenigen Menschen, die den Erkenntnisvorgang nicht als einen realen Vorgang ansehen, die kommen schließlich auch nicht zu einer Verankerung der Sittlichkeit in der Seinswelt; die kommen überhaupt zu keiner Wirklichkeitsphilosophie.
Aus dem ganzen Werdegang der abendländischen philosophischen Entwickelung wurde eigentlich die philosophische Grundlegung desjenigen, was hier als Geisteswissenschaft auftritt, herausgeholt. Und ich habe im Grunde genommen heute den Versuch gemacht, Ihnen zu zeigen, wie jener Zisterzienserpater dazumal nicht ganz unrichtig gehört hat: wie wirklich der Versuch vorliegt, die realistischen Elemente der Hochscholastik durch eine Geisteswissenschaft in unser naturwissenschaftliches Zeitalter hereinzustellen, wie Ernst gemacht wurde mit der Umwandlung der menschlichen Seele, mit der wirklichen Erfüllung der menschlichen Seele mit dem Christus-Impuls auch im Gedankenleben. Das Erkenntnisleben ist zu einem realen Faktor im Weltenwerden gemacht, das sich nur auf dem Schauplatz – wie ich in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» ausgeführt habe – des menschlichen Bewußtseins vollzieht. Aber das, was sich da auf dem Schauplatze des menschlichen Bewußtseins vollzieht, das ist zugleich Weltenvorgang, das ist ein Geschehen in der Welt; und es ist dasjenige Geschehen, das die Welt und innerhalb der Welt uns selbst vorwärtsbringt.
Da gewinnt das Erkenntnisproblem eine ganz andere Gestalt. Da wird das, was wir erleben, geistig-seelisch in uns zu einem real uns entwickelnden Faktor. Da sind wir das, was hervorgeht aus dem, was wir Erkenntnis nennen. Wie der Magnetismus wirkt in der Gestaltung der Eisenfeilspäne, wenn er die Figuren hervorbringt, die wir kennen als die Ergebnisse der Wirkung des Magnetismus auf die freien Eisenfeilspäne, so wirkt in uns dasjenige, was sich in uns spiegelt als Erkenntnis. Es wirkt zu gleicher Zeit als unser Gestaltungsprinzip, und wir erkennen dann zu gleicher Zeit das Unsterbliche, das Ewige in uns, und wir werfen das Erkenntnisproblem nicht mehr in bloß formaler Weise auf.
Wie wurde immer das Erkenntnisproblem aufgeworfen? Das Erkenntnisproblem wurde immer in Anlehnung an den Kantianismus so aufgeworfen, daß man sich sagte: Wie kommt der Mensch dazu, in dieser Innenwelt ein Abbild der äußeren Welt zu erblicken? – Aber das Erkennen ist zunächst gar nicht dazu da, um Abbilder der äußeren Welt zu schaffen, sondern um uns zu entwickeln, und es ist ein Nebenprozeß, daß wir die Außenwelt abbilden. Wir lassen in der Außenwelt zusammenfließen in einem Nebenprozeß, was wir erst durch unsere Geburt abgespalten haben, und es ist geradeso bei dem modernen Erkenntnisproblem, wie wenn jemand Weizen oder andere Feldprodukte hat und, wenn er das Wesen des Wachstumsprinzips im Weizen untersuchen will, den Weizen auf seinen Nahrungsmitteleffekt untersucht. Gewiß kann man Nahrungsmittelchemiker werden, aber das, was im Weizen wirkt von der Ähre bis zur Wurzel und wieder weiter, das wird nicht durch Nahrungsmittelchemie erkannt. Die erörtert nur irgend etwas, was hinzukommt zu der geradlinig sich fortbewegenden Entwickelungsströmung, die in der Weizenpflanze liegt.
So gibt es eine Entwickelungsströmung des geistigen Lebens in uns, die uns erkraftet, die mit unserem Wesen etwas zu tun hat, wie die Entwickelung der Pflanze von der Wurzel durch den Stamm, durch das Blatt zur Blüte und zur Frucht, und von da wiederum zum Keime und zur Wurzel wird. Und wie das, daß wir das essen, wahrhaftig nicht bei der Wesenserklärung des Pflanzenwachstums eine Rolle spielen soll, so darf auch nicht die Frage nach dem Erkenntniswerte dessen, was in uns als Entwickelungsimpuls lebt, die Grundlage für eine Erkenntnistheorie sein, sondern es muß klar sein, daß das, was wir im äußeren Leben Erkenntnis nennen, ein Nebeneffekt ist der Arbeit des Ideellen in unserer Menschenwesenheit. Da kommen wir zu dem Realen desjenigen, was ideell ist. Es arbeitet in uns. Und nur dadurch ist der falsche Nominalismus, ist der Kantianismus entstanden, daß man die Erkenntnisfrage so aufgeworfen hat, wie man die Frage nach dem Wesen des Weizens von der Nahrungsmittelchemie aus aufwerfen würde.
GA 175 S. 67
Man denke nur, wieviele Menschen, die mit rein dem Materiellen Zugewendeten die Abendstunden verbringen, sich dann dem Schlafe übergeben, ohne die Empfindung zu entwickeln – sie wird ja nicht recht lebendig aus der materialistischen Gesinnung heraus -, ohne die Empfindung zu entwickeln: Der Schlaf vereinigt uns mit der geistigen Welt, der Schlaf schickt uns hinüber in die geistige Welt. – Und wenigstens sollten die Menschen nach und nach dasjenige entwickeln, was sie sich mit den Worten sagen können: Ich schlafe ein. Bis zum Aufwachen wird meine Seele in der geistigen Welt sein. Da wird sie der führenden Wesensmacht meines Erdenlebens begegnen, die in der geistigen Welt vorhanden ist, die mein Haupt umschwebt, da wird sie dem Genius begegnen. Und wenn ich aufwachen werde, werde ich die Begegnung mit dem Genius gehabt haben. Die Flügel meines Genius werden herangeschlagen haben an meine Seele.
Ob man eine solche Empfindung lebendig macht, wenn man an sein Verhältnis zum Schlafe denkt, oder ob man es nicht tut, davon hängt sehr, sehr viel ab in bezug auf die Überwindung des materialistischen Lebens. Diese Überwindung des materialistischen Lebens kann nur durch die Erregung intimer, aber auch der geistigen Welt entsprechender Empfindungen geschehen. Nur wenn wir recht rege machen solche Empfindungen, dann wird das Leben im Schlafe so intensiv sein, daß anderseits die Berührung mit der geistigen Welt so stark ist, daß nach und nach auch unser waches Leben sich erkraften kann, und wir da nicht bloß die sinnliche Welt, sondern die geistige Welt um uns haben, die doch die wirkliche, die wahrhaft wirkliche Welt ist. Denn diese Welt, die wir gewöhnlich die wirkliche nennen, ist ja, wie ich selbst in dem letzten öffentlichen Vortrage ausgeführt habe, nur ein Abbild der wirklichen Welt. Die wirkliche Welt ist die des Geistes. Und die kleine Gemeinde, die sich heute der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft widmet, die wird die ernsten Symptome unserer Zeit, die schweren Leiden unserer Zeit dann unter dem besten Eindruck empfangen, wenn sie zu allem übrigen, mit dem der Mensch heute geprüft werden kann, noch das hinzutut, daß sie diese Zeit als eine Prüfung empfindet, ob man mit genügender Seelenstärke und mit wahrem Herzensmut, mit seinem ganzen Menschen vereinigen kann dasjenige, was wir aufnehmen müssen durch unseren Verstand, durch unsere Vernunft, als Geisteswissenschaft.
GA 21 S. 138
Auf Seite 26 dieser Schrift spreche ich von der «Herablähmung» der Vorstellungen, wenn diese zu Nachbildnern einer sinnenfälligen Wirklichkeit werden. – In dieser « Herablähmung » ist die wirkliche Tatsache zu suchen, die dem Verfahren der Abstraktion im Erkenntnisprozeß zugrunde liegt. Der Mensch bildet sich über die sinnenfällige Wirklichkeit Begriffe. Für die Erkenntnistheorie entsteht die Frage, wie sich dasjenige, das der Mensch als Begriff von einem wirklichen Wesen oder Vorgang in seiner Seele zurückbehält, zu diesem wirklichen Wesen oder Vorgang verhält. Hat dasjenige, was ich in mir als den Begriff eines Wolfes herumtrage, irgend eine Beziehung zu einer Wirklichkeit, oder ist es bloß ein von meiner Seele geformtes Schema, das ich mir gebildet habe, indem ich von demjenigen absehe (abstrahiere), was diesem oder jenem Wolfe eigentümlich ist, dem aber in der Welt des Wirklichen nichts entspricht. Eine ausgedehnte Betrachtung erfuhr diese Frage in dem mittelalterlichen Streite zwischen Nominalisten und Realisten. Für den Nominalisten ist an dem Wolf nur wirklich die an diesem als einzelnem Individuum vorhandenen sichtbaren Stoffe, Fleisch, Blut, Knochen usw. Der Begriff «Wolf» ist «bloß» eine gedankliche Zusammenfassung der verschiedenen Wölfen gemeinsamen Merkmale. Der Realist erwidert darauf: irgend ein Stoff, den man am einzelnen Wolf findet, den trifft man auch bei andern Tieren an. Es muß etwas geben, das den Stoff in den lebendigen Zusammenhang hineinordnet, in dem er sich im Wolfe findet. Dieses ordnende Wirkliche ist durch den Begriff gegeben. – Man wird nun zugeben müssen, daß Vincenz Knauer, der hervorragende Kenner des Aristoteles und der mittelalterlichen Philosophie, in seinem Buche «Die Hauptprobleme der Philosophie» (Wien 1892) bei Besprechung der aristotelischen Erkenntnistheorie (Seite 137) etwas Vortreffliches sagt mit den Worten:
«Der Wolf zum Beispiel besteht aus keinen andern materiellen Bestandteilen als das Lamm; seine materielle Leiblichkeit baut sich aus assimiliertem Lammfleisch auf; aber der Wolf wird doch kein Lamm, auch wenn er zeitlebens nichts als Lämmer frißt. Was ihn also zum Wolf macht, das muß selbstverständlich etwas anderes sein als die Hyle, die sinnfällige Materie, und zwar kein bloßes Gedankending muß und kann es sein, obwohl es nur dem Denken, nicht dem Sinne zugängig ist, sondern ein Wirkendes, also Wirkliches, ein sehr Reales.»
Doch wie will man im Sinne einer bloß anthropologischen Betrachtung der Wirklichkeit beikommen, auf die hiermit gedeutet wird? Was durch die Sinne der Seele vermittelt wird, das ergibt nicht den Begriff «Wolf». Was aber im gewöhnlichen Bewußtsein als dieser Begriff vorliegt, das ist sicher kein «Wirkendes». Aus der Kraft dieses Begriffes konnte doch gewiß nicht die Zusammenordnung der im Wolfe vereinigten «sinnfälligen» Materien entstehen. Die Wahrheit ist, daß Anthropologie mit dieser Frage an einem der Grenzorte ihres Erkennens ist. Anthroposophie zeigt, daß außer der Beziehung des Menschen zum Wolfe, die im «Sinnfälligen» vorhanden ist, noch eine andere besteht. Diese tritt in ihrer unmittelbaren Eigenart nicht in das gewöhnliche Bewußtsein ein. Aber sie besteht als ein lebendiger übersinnlicher Zusammenhang zwischen dem Menschen und dem sinnlich angeschauten Objekte. Das Lebendige, das im Menschen durch diesen Zusammenhang besteht, wird durch seine Verstandesorganisation herabgelähmt zum «Begriff». Die abstrakte Vorstellung ist das zur Vergegenwärtigung im gewöhnlichen Bewußtsein erstorbene Wirkliche, in dem der Mensch zwar lebt bei der Sinneswahrnehmung, das aber in seinem Leben nicht bewußt wird. Die Abstraktheit von Vorstellungen wird bewirkt durch eine innere Notwendigkeit der Seele. Die Wirklichkeit gibt dem Menschen ein Lebendiges. Er ertötet von diesem Lebendigen denjenigen Teil, der in sein gewöhnliches Bewußtsein fällt. Er vollbringt dieses, weil er an der Außenwelt nicht zum Selbstbewußtsein kommen könnte, wenn er den entsprechenden Zusammenhang mit dieser Außenwelt in seiner vollen Lebendigkeit erfahren müßte. Ohne die Ablähmung dieser vollen Lebendigkeit müßte sich der Mensch als Glied innerhalb einer über seine menschlichen Grenzen hinausreichenden Einheit erkennen ; er würde Organ eines größeren Organismus sein. Die Art, wie der Mensch seinen Erkenntnisvorgang nach innen in die Abstraktheit der Begriffe auslaufen läßt, ist nicht bedingt durch ein außer ihm liegendes Wirkliches, sondern durch die Entwickelungsbedingungen seines eigenen Wesens, welche erfordern, daß er im Wahrnehmungsprozeß den lebendigen Zusammenhang mit der Außenwelt abdämpft zu diesen abstrakten Begriffen, welche die Grundlage bilden, auf der das Selbstbewußtsein erwächst. Daß dieses so ist, das zeigt sich der Seele nach der Entwickelung ihrer Geistorgane. Durch diese wird der lebendige Zusammenhang (in dem Sinne, wie das Seite 26 dieser Schrift dargestellt ist) mit einer außer dem Menschen liegenden Geist-Wirklichkeit wieder hergestellt; wenn aber das Selbstbewußtsein nicht bereits ein Erworbenes wäre vom gewöhnlichen Bewußtsein her: es könnte im schauenden Bewußtsein nicht ausgebildet werden.
Man kann hieraus begreifen, daß das gesunde gewöhnliche Bewußtsein die notwendige Voraussetzung für das schauende Bewußtsein ist. Wer glaubt, ein schauendes Bewußtsein ohne das tätige gesunde gewöhnliche Bewußtsein entwickeln zu können, der irrt gar sehr. Es muß sogar das gewöhnliche normale Bewußtsein in jedem Augenblicke das schauende Bewußtsein begleiten, weil sonst dies letztere Unordnung in die menschliche Selbstbewußtheit und damit in das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit brächte. Anthroposophie kann es bei ihrer schauenden Erkenntnis nur mit einem solchen Bewußtsein, nicht aber mit irgend einer Herabstimmung des gewöhnlichen Bewußtseins zu tun haben.