Die Gerechtigkeit

 

von Stella Hagel

 

Hermann, sechs Jahre alt, kräftig und rotlockig, bittet mich eines Tages, in der Eurythmie zuschauen zu dürfen. Er sei zu müde um mitzumachen. Ich, ob seiner Bitte pädagogisch verunsichert, da er öfters mal ein etwas unflätiges Benehmen an den Tag legt, bitte ihn, sich lieber ganz besonders anzustrengen und sich nicht hinzusetzten. Hermann fügt sich in sein Schicksal und macht mit. Ein kleiner vierjähriger Racker geht mir während der Eurythmie an diesem Tag durch wie ein wildgewordenes Fohlen. Darum bringe ich ihn schnellstens auf einem Stuhl in Sicherheit. Dabei spüre ich Hermanns Blick im Rücken. „Ungerecht!“, sagen seine Augen. „Ja, Hermann“, bestätige ich, „das ist jetzt wirklich ungerecht, aber ich muss den Dirk hinsetzen, weil er noch so klein ist, und Du bist doch schon so groß. Verstehst Du das?“ „Ja,“ Hermann nickt würdevoll, „das verstehe ich.“ Und er macht zu meinem Erstaunen anstandslos weiter Eurythmie. Dass er die Sache anders verstanden hat, als ich sie meinte, merke ich in der Eurythmiestunde eine Woche später. Hermann steuert, im Eurythmieraum angekommen, zielsicher auf einen Stuhl zu und setzt sich, als wäre es völlig selbstverständlich, drauf. „Hermann,“ frage ich verwundert, „wieso setzt Du Dich denn hin?“ Hermann erklärt, erstaunt über meine Frage: „Na ja, wegen der Gerechtigkeit!“ Und diesmal habe ich ihn natürlich sitzen lassen.