von Stella Hagel
Viele Jahre bemühten sich meine Eltern, würdig den Osterhasen bei ihren Kindern zu vertreten. Darunter sind in meiner Erinnerung sehr schöne Erlebnisse. Meistens spielte unser Vater mit uns Kindern auf der Wiese, während die Mutter schon mal in den Wald „schnuppern“ ging, denn sie konnte besonders gut den Osterhasen am Geruch erkennen. Und wenn sie dann von ihren Erkundungen zurückkehrte, führte sie uns sicher in die richtige Richtung und das freudige Suchen konnte beginnen. Das erste Mal, an das ich mich ganz genau erinnere, ging ich, viereinhalb Jahre alt, mit meinem Vater Hand in Hand die Ostereier suchen. Ich habe es als ganz tiefes Erlebnis in Erinnerung, und auch mein Vater hat bis heute das Staunen und die Freude seiner kleinen Tochter beim Suchen und Finden nicht vergessen. Aber noch aus einem anderen Grund ist unserer Familie dieses Osterfest in besonderer Erinnerung geblieben. Meine Mutter ging mit meinem zweieinhalbjährigen Schwesterchen Sieglinde an der Hand hinter uns her und half diesem beim Suchen. Auch sie freute sich natürlich über das Ostereiersuchen, aber während mein Körbchen immer voller wurde, blieb das ihre ziemlich leer. Solange, bis meine Mutter entdeckte, dass die Kleine äußerst geschickt und völlig unauffällig ein Ei nach dem anderen auspackte und verspeiste, ohne dass jemand etwas davon bemerkt hatte.
Jahre später, Sieglinde war acht Jahre alt, lebte unsere Familie für ein Jahr in einem Camphill-Heim in Schottland. Sieglinde glaubt inzwischen nicht mehr an den Osterhasen, und wie die Kinder des Heimes in ihren Schlafräumen mittags ruhen sollten, bei streng zugezogenen Gardinen, um den Osterhasen ja nicht durch neugierige Gesichter am Fenster zu erschrecken, huschte sie völlig unbemerkt, wie nur sie es konnte, von einem Raum zum anderen, spähte heimlich durch die Gardinen und schaute dem oder mehreren Osterhasen aufmerksam bei der Arbeit zu. Nach der Mittagsruhe bekam jedes Kind ein kleines Körbchen. Ich, zehn Jahre alt, hatte die Aufgabe mit meinem dreijährigen Bruder Volker suchen zu gehen. Sieglinde schaute sich voller Geringschätzung die kleinen Körbchen an, witschte in die Waschküche, holte dort einen großen Eimer und mit diesem zog sie los. Sie musste garnicht die Ostereier suchen, sie brauchte sie nur einzusammeln. Bald war ihr Eimer voll und man musste sie hindern, sich einen zweiten zu beschaffen.
Zum Schluss nahm alles für sie ein tragisches Ende. Die Eier kamen am Abend auf einen großen Haufen und wurden gerecht verteilt. Sieglinde war noch zu jung, um in so schmählichem Tun die Gerechtigkeit zu erkennen. Tief in ihre Seele grub sich das Erlebnis, ihres Eigentums beraubt worden zu sein. Unmut und Trauer ließen sich nur mildern durch geschicktes, und wiederum völlig unbemerktes, allmähliches Zurückerobern der ihr geraubten Schätze.