von Stella Hagel
Mein Bruder Volker hat, wie gesagt, als kleiner Junge viel Sprachgestaltung mit seiner Mutter gemacht, und das hat bei ihm zu beachtlichen Fähigkeiten geführt. Er bekommt öfter kleine Rollen in der Schule zugeteilt, die dann an der Monatsfeier aufgeführt werden. Mit acht Jahren soll er einen von drei Zwergen spielen. Die Klasse übt täglich das Stück, in welchem die drei Zwerge jeder einen Part alleine zu sprechen haben. Volker übt begeistert immer wieder auch zuhause das recht lange Stück. Immer das Ganze! Seine Frage: „Soll ich Euch noch mal mein „Hei Lippai“ sagen?“ (der Satz „Hei Lippai“ gehört zu seiner Rolle und gefällt ihm am besten) führt inzwischen bei seinen Schwestern zu Unmut; sie wollen es nicht mehr hören. In seiner Begeisterung kann Volker aber gar nicht verstehen, dass sie von seinem „Hei Lippai“ genug haben, und nach jeder schnöden Unterbrechung der Schwestern fängt er sein Stück wieder ganz von vorne an.
Erst als die Aufführung naht, merkt man, dass Volker nicht in der Lage ist zu verstehen, wo seine Rolle anfängt und wo sie aufhört. Ihm das beizubringen ist schwer. Zur Aufführung sind die Stimmen der anderen Zwerge leis und zaghaft und vor einem ganzen Saal mit kleinen und großen Schülern kaum zu vernehmen. Zuletzt hat Volker seinen Part. Mit kräftiger, geübter und wohlartikulierter Sprache füllt er den Saal, und hebt während seiner letzten Worte noch bedeutungsvoll sein Fingerchen in die Höhe. Danach bricht Riesenbeifall aus. Klatschen und Johlen. Auf so etwas ist Volker nicht vorbereitet. Wie gebannt steht er auf der Bühne vor Schreck ganz erstarrt. Die großen Schüler nutzen seine Hypnose weidlich aus, johlen und klatschen noch lauter. Zu ihrem Vergnügen merkt der kleine Zwerg im Glanz des Erfolges nicht mehr, was um ihn herum geschieht. Die Lehrerin schiebt die Klasse von der Bühne, und er steht nun ganz alleine dort oben. Nun natürlich erst recht lautes Johlen im Saal. Volker fängt zaghaft an, den Erfolg zu genießen, als er merkt, dass es einer ist. Langsam fängt er an zu strahlen, und macht überhaupt keine Anstalten, die Bühne zu verlassen.
Leider nimmt die Sache für ihn ein schlimmes Ende. Da er nämlich sonst ein ziemlicher Lausbub ist, vermutet die Lehrerin, dieses Mal allerdings zu Unrecht, er spiele wieder einen seiner berüchtigten Streiche und heize damit nun die ganze Schule auf. Sie marschiert resolut auf die Bühne, packt den zurückgelassenen Zwerg am Ohr und zieht ihn vor aller Augen schmachvoll von derselben runter. Der kleine Kerl empfindet die Schande tief. Da er sehr stolz ist, ist er auch sehr empört über diese Behandlung. Ihm ist jedoch eine wunderbare Fähigkeit zu eigen. Er kann herzlich über sich selber lachen. Und letztlich, nachdem in der Familie das Ereignis besprochen worden war, hat er sehr amüsiert die Komik dieser Episode erfasst und keinen bleibenden Schaden für sein Leben erlitten.