Rudolf Steiner: Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Kopfe des Menschen hervor, wie die Blüte an der Pflanze?

 

(aus GA 4 S. 85)  

Den Grund, warum das Denken bei der Betrachtung der Dinge zumeist übersehen wird, haben wir bereits angegeben (vergleiche Seite 42 f.). Er liegt in dem Umstande, daß wir nur auf den Gegenstand, über den wir denken, nicht aber zugleich auf das Denken unsere Aufmerksamkeit richten. Das naive Bewußtsein behandelt daher das Denken wie etwas, das mit den Dingen nichts zu tun hat, sondern ganz abseits von denselben steht und seine Betrachtungen über die Welt anstellt. Das Bild, das der Denker von den Erscheinungen der Welt entwirft, gilt nicht als etwas, was zu den Dingen gehört, sondern als ein nur im Kopfe des Menschen existierendes; die Welt ist auch fertig ohne dieses Bild. Die Welt ist fix und fertig in allen ihren Substanzen und Kräften; und von dieser fertigen Welt entwirft der Mensch ein Bild. Die so denken, muß man nur fragen: mit welchem Rechte erklärt ihr die Welt für fertig, ohne das Denken? Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Kopfe des Menschen hervor, wie die Blüte an der Pflanze? Pflanzet ein Samenkorn in den Boden. Es treibt Wurzel und Stengel. Es entfaltet sich zu Blättern und Blüten. Stellet die Pflanze euch selbst gegenüber. Sie verbindet sich in eurer Seele mit einem bestimmten Begriffe. Warum gehört dieser Begriff weniger zur ganzen Pflanze als Blatt und Blüte? Ihr saget: die Blätter und Blüten sind ohne ein wahrnehmendes Subjekt da; der Begriff erscheint erst, wenn sich der Mensch der Pflanze gegenüberstellt. Ganz wohl. Aber auch Blüten und Blätter entstehen an der Pflanze nur, wenn Erde da ist, in die der Keim gelegt werden kann, wenn Licht und Luft da sind, in denen sich Blätter und Blüten entfalten können. Gerade so entsteht der Begriff der Pflanze, wenn ein denkendes Bewußtsein an die Pflanze herantritt. 

Es ist ganz willkürlich, die Summe dessen, was wir von einem Dinge durch die bloße Wahrnehmung erfahren, für eine Totalität, für ein Ganzes zu halten, und dasjenige, was sich durch die denkende Betrachtung ergibt, als ein solches Hinzugekommenes, das mit der Sache selbst nichts zu tun habe. Wenn ich heute eine Rosenknospe erhalte, so ist das Bild, das sich meiner Wahrnehmung darbietet, nur zunächst ein abgeschlossenes. Wenn ich die Knospe in Wasser setze» so werde ich morgen ein ganz anderes Bild meines Objektes erhalten. Wenn ich mein Auge von der Rosenknospe nicht abwende, so sehe ich den heutigen Zustand in den morgigen durch unzählige Zwischenstufen kontinuierlich übergehen. Das Bild, das sich mir in einem bestimmten Augenblicke darbietet, ist nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem in einem fortwährenden Werden begriffenen Gegenstande. Setze ich die Knospe nicht in Wasser, so bringt sie eine ganze Reihe von Zuständen nicht zur Entwickelung, die der Möglichkeit nach in ihr lagen. Ebenso kann ich morgen verhindert sein, die Blüte weiter zu beobachten und dadurch ein unvollständiges Bild haben. 

Es ist eine ganz unsachliche, an Zufälligkeiten sich heftende Meinung, die von dem in einer gewissen Zeit sich darbietenden Bilde erklärte: das ist die Sache. 

Ebensowenig ist es statthaft, die Summe der Wahrnehmungsmerkmale für die Sache zu erklären. Es wäre sehr wohl möglich, daß ein Geist zugleich und ungetrennt von der Wahrnehmung den Begriff mitempfangen könnte. Ein solcher Geist würde gar nicht auf den Einfall kommen, den Begriff als etwas nicht zur Sache Gehöriges zu betrachten. Er müßte ihm ein mit der Sache unzertrennlich verbundenes Dasein zuschreiben.

Ich will mich noch durch ein Beispiel deutlicher machen. …