Rudolf Steiner zur Dekadenz der führenden Klasse der Gegenwart sowie zur Tragik der bürgerlichen Weltordnung

 

von Ingo Hagel

 

Rudolf Steiner: Es kam ein merkwürdiges Echo einmal, als ich in einer süddeutschen Stadt in einem Vortrage etwas sagte, was die Leute recht ärgerte, aber es war eine der gegenwärtig notwendigen Wahrheiten. Man kann nicht die Dinge, die man ausspricht, so sagen, dass es die Leute erfreut, sondern man muss es so sagen, dass es Wahrheit ist. Ich musste im Zusammenhange sagen: Gerade die führende Klasse der Gegenwart habe ein dekadentes physisches Gehirn. Es ist unangenehm, wenn man das aussprechen muss, es ist nicht bloß unangenehm, dies zu hören. Aber es ist notwendig, dass der Mensch es erfährt. Gerade die Menschen, welche die heutige Zeitkonfiguration herbeigeführt haben, sind dabei angekommen, ein dekadentes physisches Gehirn zu haben. Das ist so! Und wir sind in gewisser Beziehung heute in einem ähnlichen Falle, wie die Menschen Europas waren bei der Völkerwanderung und der Ausbreitung des Christentums. Vom Orient herüber kam der christliche Impuls, er ging zuerst durch Griechenland und Rom. Die griechische, die römische Welt war natürlich weit höher entwickelt als die germanische. Die Germanen waren Barbaren. Aber die Gehirne der Griechen und Römer waren dekadent. Daher wurde die christliche Welle in der griechischen und der römischen Welt nicht so aufgenommen, wie sie es wurde, als sie an die Germanen herankam. Das ist die Völkerwanderung, die horizontal gegangen ist. Heute ist sie vertikal. Heute kommt eine Welle geistigen Lebens aus der geistigen Welt. Wie das Christentum zuerst aufprallte auf die Griechen und Römer, so prallt die geistige Welt auf die gegenwärtige, auf die bürgerliche Welt auf, und die ist dekadent. Die Proletarier sind noch nicht dekadent; sie werden noch begreifen, was gemeint ist mit der spirituellen Welt. Aber die anderen werden die Vorbereitung durch Anthroposophie gebrauchen, das heißt, denjenigen Teil des Gehirns ausbilden müssen, der noch nicht physisch ist, das ätherische Gehirn. Wir stehen heute einmal vor der Notwendigkeit, dass die führenden Klassen nicht nur ein dekadentes Gehirn haben werden, sondern ganz in die Dekadenz kommen werden, wenn sie nicht begreifen, dass sie übersinnlich die spirituelle Weltanschauung erfassen müssen. Das ist die Tragik der bürgerlichen Weltordnung, dass sie alles physisch begreifen möchte, während man darauf angewiesen ist, heute mit dem Äthergehirn die Dinge zu erfassen, das heißt spirituelle Wahrheiten in sich aufzunehmen. 

aus Nr. 193 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe

 

Die Aussage Rudolf Steiners, die führende Klasse der Gegenwart weise dekadente Gehirne auf,

Anmerkung: man könnte im weitesten Sinne das Bürgertum dazu zählen, aber auch hier haben sich in den letzten 100 Jahren bedeutsame Veränderungen ergeben, indem das damalige Proletariat zu großen Teilen in diese Schicht aufgestiegen ist, also verbürgerlicht worden ist, mit den entsprechenden Konsequenzen – man könnte Einiges dazu sagen…..

ist nicht als ein abwertendes oder gar etwas antipathisches Urteil gemeint, denn Rudolf Steiner kritisiert niemals sondern charakterisiert immer Tatsachen: Dekadent bedeutet, dass die Gehirne dieser Bevölkerungsschicht von ihrer ursprünglichen Leistungsfähigkeit herabgefallen sind (aus dem Lateinischen: cadere = fallen). Sie vermögen nicht mehr das zu leisten, was sie aufgrund der heutigen Zeitsituation eigentlich können müssten. Sie sind nicht in der Lage, die Ideen zu erfassen, die allein der heutigen Zeit und ihrer Verhältnisse gerecht werden können und die sozialen, gesellschaftlichen, geistigen Probleme angehen können. Das ist mit „dekadent“ gemeint. Und deswegen sagt Rudolf Steiner, dass dieses Bürgertum mit diesen Gehirnen eben die Ideen der Anthroposophie nötig hat. Denn an deren Studium kann sich zwar nicht das physische Gehirn verändern, aber das „ätherische Gehirn“, das dem ersteren übergeordnet ist, da es durch die geistigen Begriffe der Anthroposophie in die nötige Bewegung gebracht wird. Und das ist viel wertvoller, da Geistiges eben nicht mit dem physischen Gehirn sondern nur mit dem ätherischen Gehirn gedacht werden kann, und darauf kommt es an.

Die geistigen Wahrheiten der Anthroposophie sind mit dem physischen Gehirn nicht zu verstehen. Sie müssen mit dem gedacht werden, was als „ätherisches Gehirn“, das heißt als das im Menschen vorhanden ist, das als Lebendiges die Voraussetzung und geistige Grundlage des Physischen ist. Das ist anstrengend. Die Menschen empfinden, dass Anthroposophie völlig außerhalb ihrer Denkgewohnheiten liegt, die nur die Dinge der Sinneswelt (Physisches) ins Auge fassen. Dabei läge in der Erarbeitung der Anthroposophie das, was der Dekadenz entgegenarbeiten würde.

 

Natürlich will das heute so wenig wie damals einer hören. Aber so wird das Bürgertum immer weiter und weiter in den Untergang der europäischen Zivilisation gehen.

Vor zwei Jahren hat ja auch Max Otte auf eine These von Oswald Spengler –

der ja auch das damals sehr bekannte Buch vom Untergang des Abendlandes geschrieben hatte –

aufmerksam gemacht und versucht, die existenzielle Situation, in der Europa steht, an vielen Missständen und Forderungen deutlich gemacht. Geändert hat sich natürlich nichts, was noch einmal – neben vielen anderen zu nennenden Beispielen – die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Bürgertums unterstreicht, sich mit den bestehenden Problemen auch nur adäquat befassen zu wollen.

Anmerkung: Zu dem von Max Otte erwähnten Autor Oswald Spengler beziehungsweise. dessen Buch erwähnte Rudolf Steiner einmal folgendes: „….wir brauchen Leute, die sagen: das Schicksal der Zukunft hängt von der Dreigliederung ab. Wir stehen vor einem aut-aut (lateinisch: entweder oder; Anmerkung IH): Entweder die Welt begreift die Dreigliederung, oder die Welt geht den Gang, den Spengler vorgezeigt hat. Zwischen diesen zwei Dingen schwebt die Welt.“

Der aktuellste Beleg für diese Unfähigkeit oder Dekadenz des Bürgertums ist das Buch von Matthias Weik und Marc Friedrich: „Der Crash ist die Lösung“. Angesichts der Reformunfähigkeit soll nur noch ein Zusammenbruch die Rettung aus der verfahrenen Situation darstellen.

 

Mit Blick auf die Degeneriertheit muss man auch die Ansprache beachten,

die Webster Tarpley am 31. Mai 2014 hielt.

Webster Tarpley bei 24:40:

„Wir haben eine klinisch wahnsinnige herrschende Klasse – Verlieren Sie das niemals aus den Augen.“    („We have a clinically insane ruling class, don‘t ever loose sight of this fact.“)  

Und bei 26:05: „Also noch einmal: Wir haben es mit einer klinisch wahnsinnigen, bankrotten, dekadenten, degenerierten herrschenden Klasse zu tun, die wir loswerden müssen.“      („So again, we are dealing with a clinically insane, bancrupt, decadent, degenerate ruling class, that has to be gotten rid of.“)  

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Da haben wir es also ganz aktuell mit der Degenerierung, die Rudolf Steiner ansprach, auch wenn die Verhältnisse aus bestimmten Gründen in Deutschland etwas anders liegen mögen. Denn die deutsche Regierung betreibt zwar nicht diese wahnsinnige US-Politik, schließt sich dieser aber blind und willig an mit seinen Bankenrettungspaketen, seiner EU-Diktatur, seinen TTIPs und TISAs und eines neuen deutschen Militarismus zur Sicherung von Handel und Rohstoffen usw., weil die deutsche herrschende Klasse entweder dumm, korrupt oder beides ist oder politisch in völligen Illusionen lebt – was ja auch nahe am vom Webster Tarpley erwähnten Wahnsinn angesiedelt ist. Leider wird diese Klasse natürlich vom – ebenso degenerieren – Bürgertum gewählt, so dass alles seine „demokratische Ordnung“ hat.

 

Interessant ist Rudolf Steiners Hinweis (s.o.) auf das Proletariat als einer Menschengruppe, die in der Zukunft der Spiritualität der Anthroposophie ein ganz anderes Verständnis entgegenbringen wird:

„Die Proletarier sind noch nicht dekadent; sie werden noch begreifen, was gemeint ist mit der spirituellen Welt.“ 

denn er charakterisiert damit relativ lange Zeiträume einer Veränderung. Auf die Frage, dass es das Proletariat, von dem Steiner damals sprach, doch heute nicht mehr gäbe, kann ein Beispiel in die Richtung deuten, in die gedacht werden muss: Gerald Celente, der bekannte, scharfsinnige und -züngige sowie mutige Ankläger der US-amerikanischen Unrechtsverhältnisse in Wirtschaft und Politik bekannte einmal, dass er nicht ein Kind der Oberschicht, des Bürgertums ist, sondern in der Bronx aufwuchs:

Diese dämliche “Bronx-und-Yonkers-Mentalität“, die auch ich als Kind, das dort aufwuchs, hatte: Wenn jemand zu seinen Kumpels sagen würde „Lass uns ein krummes Ding durchziehen.“ und einer seiner Freunde sagen würde, „Was geht denn mit Dir?“, dann würde der sagen, „Nein! Was geht denn mit Dir? Wenn es für Goldman Sachs OK ist, krumme Dinger zu drehen, warum sollte es dann für mich nicht OK sein?“ Das ist diese Mentalität. 

Ich sage damit nicht, dass Gerald Celente Anthroposoph oder Anhänger der Sozialen Dreigliederung ist, sondern nur, dass sein leidenschaftlicher Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse kein Charakteristikum des heutigen Bürgertums und der „führenden Klasse“ ist. Und so wird man Viele finden in der heutigen Zeit, die gegen dieses dekadente System kämpfen, und bei denen ich immer wieder das Gefühl habe, dass sie ihre Wurzeln im Proletariat vergangener Zeiten haben.

 

Ich habe da etliche Menschen im Blick, die gegen den bestehenden Wahnsinn

einer feudal-aristokratischen EU-Diktatur kämpfen, die die Menschen entrechtet, gegen ein Falschgeldsystem aufgeblähter Banken, das die Gesellschaften ruiniert und in die Armut treibt, gegen einen immer weiter erodierenden Rechtsstaat usw., ob als Journalisten, Börsenexperten, Blogger, Filmemacher usw. – sogar Professoren und EU-Parlamentarier sind unter diesen Kämpfern – von denen ich manchmal weiß und immer wieder vermute, dass sie nicht aus einer langen Reihe von Akademikern, Priestern, Anwälten, Diplomaten Ärzten usw. abstammen, sondern sich aus sehr einfachen Verhältnissen, eben aus dem Proletariat emporgearbeitet haben zu einem zwar vielleicht bürgerlich zu nennenden Wohlstand, aber eben nicht zu einer bürgerlichen Trägheit und Gleichgültigkeit des Denkens. Das Proletariat von damals aus Rudolf Steiners Zeit ist eben in alle Teile der Gesellschaft hineingewandert, und unsere Vorstellungen von diesem Proletariat, das Rudolf Steiner einmal als die nachrückende Bevölkerungsschichte, welche das Bürgertum ablösen wird, bezeichnete, müssen sich heute ebenso wandeln. Man darf gespannt sein, was sich aus diesen oft hemdsärmeligen und in ihren Umgangsformen zuweilen rauen aber blutvollen Individualitäten, die aber selber denken können, in Zukunft noch entwickeln wird. Immerhin sagte Rudolf Steiner ja (siehe oben), dass diese Schicht von Menschen die Spiritualität, die als Grundlage einer kommenden Zeit nötig sein wird, schon noch begreifen wird. Man darf also bei diesem Proletariat, das Rudolf Steiner damals im Blick hatte, heute nicht mehr nur an die einfachsten körperlich tätigen Arbeiter der damaligen Zeit denken. Rudolf Steiner selber war ja ein geistiger Arbeiter und Forscher von ungeheurer Größe, aber er bekannte selber, dass er aus dem Proletariat abstammte. Der nächste Schritt, denn dieses heutige „Proletariat“ wird tun müssen, wird eben der sein müssen, nicht nur die Krankheit zu diagnostizieren, sondern die Wege der Heilung aufzusuchen, und die liegen eben in der Anthroposophie und der Sozialen Dreigliederung Rudolf Steiners.

 

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Deutscher Militarismus und Weltmachtpolitik statt Ergreifen wirklicher deutscher Fähigkeiten – Dekadenz der führenden Klasse sowie die Tragik der bürgerlichen Weltordnung

 

 

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