Das wahre Wesen des Denkens wird heute missverstanden – Vom Denken zum Erleben des Denkens

 

von Ingo Hagel 

 

Viele Menschen glauben heute, dass das Denken die selbstverständlichste Sache von der Welt sei. Denn kaum macht man morgens die Augen auf, fängt es auch schon an zu rattern im Hirn, und man sortiert die Dinge um sich herum durch das Denken: die Zahnpasta kommt auf die Zahnbürste und nicht in die Espressomaschine, und das Kaffeepulver in letztere und nicht auf die Zahnbürste, und so weiter und so fort. Dann geht es weiter „auffe Abbait“, wo man ja auch seinen Grips mehr oder weniger gehörig zusammenhalten muss, um nicht zu denjenigen zu gehören, die möglicherweise der nächsten Rationalisierungswelle zum Opfer fallen. Das hält der naive Mensch für ein Denken, und sich selber für einen denkenden Menschen – und er hat ja in einer gewissen elementaren Weise durchaus erstmal recht damit. Die nächste Stufe eines solchen Denkens an den Dingen der Sinneswelt entlang ist die, welche durch die moderne Naturwissenschaft ihre Vervollkommnung erlangt hat.

Anmerkung: Ich verweise einfach nur für die Interessierten auf eine nochmalige Differenzierung unter den „Erwachten der Zahncreme und des Espressopulvers“, die Rudolf Steiner bereits damals zu bedenken gab:

Eigentlich scharf denken können nur diejenigen Menschen heute, welche sich gewisse naturwissenschaftliche Vorstellungen angeeignet haben. Die anderen sind versucht, verschwommen zu denken.

Und vielleicht sind wir ja auch gar nicht mehr denjenigen verschwommenen Zuständen in diesem armen Deutschland fern, wo solche sachlichen Charakterisierungen von Phänomenen von irgendwelchen Organisationen, Tugendwächtern oder „schwarz-rot-grünen Gleichheitsfanatikern“ als Hasskommentare, diskriminierend oder „elitär“ gekennzeichnet werden.

Im heutigen Leben gibt es eigentlich nichts mehr, was nicht von dieser naturwissenschaftlichen Denkweise geprägt wurde. Sowohl im Alltag des naiven Menschen als auch im Beruf vor allem der naturwissenschaftlich Tätigen wird also gedacht, indem man die Dinge der Sinneswelt im Auge hat und über diese denkt. Wenn Rudolf Steiner also in der „Philosophie der Freiheit“ schreibt, dass genauso, wie das Aufwachen aus den Träumen des Schlafes ein Erwachen darstellt, das Denken im Vergleich zum bloßen Wahrnehmen der Welt ein Erwachen darstellt, ein Aufwachen,

Zu einer solchen Ansicht kann sehr leicht die Beobachtung führen, dass es dem Träumen gegenüber zwar den Zustand des Wachens gibt, in dem wir Gelegenheit haben, die Träume zu durchschauen und auf reale Verhältnisse zu beziehen, dass wir aber keinen zu dem wachen Bewusstseinsleben in einem ähnlichen Verhältnisse stehenden Zustand haben. Wer zu dieser Ansicht sich bekennt, dem geht die Einsicht ab, dass es etwas gibt, das sich in der Tat zum bloßen Wahrnehmen verhält wie das Erfahren im wachen Zustande zum Träumen. Dieses Etwas ist das Denken.

dann kratzen sich viele Leute natürlich am Kopf und fragen sich:

Wo ist da das Neue? Das machen wir doch dauernd und jeden Tag! Wir denken doch alle!

 

 

Die wahre Bedeutung des Denkens wird heute missverstanden.

Es ist nun mal so: Die wahre Bedeutung dieses Denkens, das Rudolf Steiner in obigem Zitat erwähnt, wird unter den heutigen Denkgepflogenheiten missverstanden. Das war ja bereits auch damals so, worauf Rudolf Steiner ebenfalls eingeht, dass nämlich diejenigen, die seine „Philosophie der Freiheit“ hätten verstehen sollen, diese eben nicht verstanden haben, indem sie zum Beispiel ihre Vorstellungen (also Begriffe, die auf sinnliche Wahrnehmungen deuten; siehe besagte „Philosophie der Freiheit“) mehr schätzten als die Fähigkeit, Begriffe und die Ideen bilden zu können – zum Beispiel die der „Philosophie der Freiheit“, die ganz im sinnlichkeitsfreien, das heißt im reinen Denken verlaufen – und die jeder Mensch als Perle eines ersten Hellsehens in sich trägt:

Und es ist ungeheuer wichtig, dass man zunächst verstehen lernt, dass der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz Alltägliches eigentlich ist: man muss nur die übersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muss sich klar sein, dass aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht.

Und so, wie Hühner eine Perle, die am Wegesrand liegt, gar nicht schätzen, so schätzen damals wie heute die Menschen weder ein wirkliches Denken noch die „Philosophie der Freiheit“ besonders,

denn diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, halt zu den Hühnern.

 

 

Rudolf Steiner war sich der enormen Klippe und des großen Problems, das er mit seiner „Philosophie der Freiheit“ vor die noch schwachen Fähigkeiten der Menschen hingestellt hatte, völlig im Klaren. 

Er wurde daher nicht müde, in seinem gesamten späteren Leben immer wieder von den verschiedensten Aspekten her auf die große Bedeutung dieser „Philosophie der Freiheit“ – und zwar bis in sehr weite Menschheitszukunft hinein – hinzuweisen.

Dieser Gedankenorganismus, wie Rudolf Steiner dieses seine „Philosophie der Freiheit“ einmal bezeichnete, ist ja nicht nur eine urgesunde Denkschulung für jeden Menschen, ganz besonders aber natürlich für diejenigen, die glauben, als Wissenschaftler geistige Erkenntnisse erarbeiten zu wollen (aber diese hohe Aufgabe der Wissenschaft ist ja heute rein technischen Zielsetzungen gewichen). Sie ist darüber hinaus die unerlässliche Voraussetzung für eine übersinnliche Forschung – ob man diesen Weg dann wirklich gehen will oder nicht. Rudolf Steiner hatte ja – wie oben erwähnt – die Begriffs- und Ideenfähigkeit des Menschen als erste aber reale Veranlagung einer gesunden Hellsichtigkeit bezeichnet. Diese kann dann nach dieser Denkschulung weiter entwickelt werden, muss es aber nicht.

 

 

Viele „Anthroposophen“ sowie die naiven Anbeter des gewöhnlichen Alltagsbewusstseins glauben damals wie heute, diesem strengen Denken entkommen zu können.

Viele „Anthroposophen“ glauben damals wie heute, sie könnten sich – wenn sie überhaupt noch Interesse an einer diesbezüglichen geistigen Auseinandersetzung haben und die  Geisteswissenschaft Rudolf Steiners nicht eher für ein besseres „Wort zum Sonntag“ oder eine gemütlichere Art von Naturwissenschaft halten – an einer solchen strengen Gedankenschulung vorbeidrücken und auf irgendwelchen träumerischen Wegen in die geistige Welt hineinmeditieren und hineinwahrnehmen zu können. Rudolf Steiner lehnte alle Arten einer übersinnlichen Erkenntnismethode, die durch abseitige nichtanthroposophische – oder missverstandene anthroposophische – Praktiken unter das Niveau des reinen Denkens herunterfallen, ab:

Leider verwechseln die Gegner und auch diejenigen, welche Anhänger dieser Geisteswissenschaft sein wollen, diese nur allzuoft mit der falschen Mystik, ob- wohl diese Verwechslung diejenige einer Sache mit ihrem Gegenteile ist.

Nicht „mediumistische Offenbarungen“ und „Leibesoffenbarung im Bereich der untersinnlichen Welt“, sondern „Offenbarung des Übersinnlichen“ sollen angestrebt werden:

Die Vorgänge, die zu dem hier gemeinten schauenden Bewusstsein führen, sind ganz geistig-seelischer Art; und ihre einfache Beschreibung müsste schon davor behüten, das durch sie Erreichte mit pathologischen Zuständen (Vision, Mediumismus, Ekstase und so weiter) zu verwechseln. Alle diese pathologischen Zustände drücken das Bewusstsein unter den Stand herab, den es im wachenden Menschen einnimmt, der seine gesunden physischen Seelenorgane voll brauchen kann. 

 

 

 

Wie oben gesagt: Die Menschen glauben, sie denken, aber sie haben eben nur das Objekt der Sinneswelt, mit dem sich das Denken beschäftigt, im Bewusstsein, nicht aber das Denken.

Durch das gewöhnliche Denken wird die Außenwelt verstanden, erlebt, geordnet und bewältigt (und Deutschland wird Exportweltmeister durch eine ausgeklügelte Technik), aber ein wirkliches Denken ist das nicht. Das reale Denken ist daher das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens. Das führt dazu, dass das Denken missverstanden wird.

Im gewöhnlichen Bewusstsein des Alltags ist es der physische Leib, der dem Menschen durch die Wahrnehmungen der Sinneswelt eine gemütliche weil passive Grund- und Unterlage für das Denken schafft, der dabei aber das lebendige Denken tötet, indem er dem Menschen stattdessen die Sinneswelt ins Bewusstsein schmeißt, die jedes Erleben eines realen Denkens überschattet.

Um dieses wirkliche Denken erleben zu können, muss man sein Bewusstsein – im reinen Denken zum Beispiel der Gedanken der „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners – von den Objekten der Sinneswelt abwenden können. Man darf dabei aber nicht einschlafen, so wie man im Schlaf die Aufmerksamkeit von den Dingen der Sinneswelt abwendet, dabei aber das Bewusstsein verliert.

 

 

Das reale, wirkliche Denken wird also nicht mehr so gemütlich und passiv verlaufen können wie das Denken des gewöhnlichen Bewusstseins. 

Man wird Aktivität, Anstrengung und Willen in dieses Denken hineinschicken müssen, um dieses reine und sinnlichkeitsfreie Denken im Bewusstsein halten zu können:

Der Mensch kann in das gewöhnliche bewusste Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erleben des Denkens übergehen. Im gewöhnlichen Bewusstsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird.

Aber dafür ist in diesem boden- und orientierungslosen Sumpf, in den man sich hineinbegeben muss, und vor dem man selbstverständlich erst einmal Angst hat, diese „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners der Leit- und Knüppelpfad, auf dem man sich halten kann. Man muss diese Gedanken in der richtigen Weise nachdenken und verstehen. An ihnen kann man sich wachsend vorwärtstasten, während man glaubt, links und rechts wäre auf diesem Wege eines sinnlichkeitfreien Denkens nichts als Abgrund vorhanden.

Die Menschen – heute wie damals – erleben ein solches Unternehmen als überhaupt nichts Erstrebenswertes. Das Denken als solches wird nicht geschätzt, sondern nur dessen Anwendung auf die Sinneswelt, die dann als Technik die angenehmen Produkte unseres täglichen Lebens erzeugt.  So wie heute gedacht wird, erkältet das Denken den Menschen erstmal, es scheint alles Leben aus diesem herauszusaugen. Aber das ist nur deshalb so, weil wir im Leben nur gelernt haben, mit dem Kopf und mit dem physischen Leib zu denken, was dann jedoch nur dieses eingangs beschriebene passive und tote Denken ergibt –  und die vielen Leichen im Kino sind ja nur ein Bild für dieses moderne Denken der Menschen. Ja, es gibt viel an Hindernissen auszuräumen, die nicht nur durch das einzelne Leben aufgetürmt worden sind, sondern auch durch die gesamte materialistische Kulturentwicklung. Diese hatte durchaus ihr Wichtiges und Notwendiges, ich kritisiere sie nicht, meine aufmerksamen Leser wissen das. Der Materialismus des modernen naturwissenschaftlichen Denkens hat den Menschen – neben vielen Annehmlichkeiten der modernen Technik – ihr Erleben der Freiheit gebracht. Sollte dieser Materialismus aber so verbleiben, wie er im Moment sich darlebt, dann wird er für das Leben der Menschen ernste Konsequenzen haben.

Nur schrittweise wird dieser geistverneinende Materialismus aus dem Wege geräumt werden können. Das geht nicht von heute auf morgen oder am besten gleich und sofort, so wie man den Klinkenstecker seiner Kopfhörer mit dem Smartphone verbindet, sondern dafür wird lange Arbeit notwendig sein. Man wird dazu den Willen, den man heute einzig und allein in die räumliche Bewegung seiner Glieder und in die Produktion der Wirtschaft steckt, in das Denken schieben müssen. Das reine Denken ist eine Willensangelegenheit – natürlich nicht der brutale Wille, der sich heute in der Welt darlebt, sondern ein vergeistigter Wille.  Und dann wird man irgendwann auch von der Welt der Ideen das sagen können, was Rudolf Steiner einmal dazu seinen Lesern als Leuchtstern auf den Weg gegeben hat:

„Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist.“

 

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