von Stella Hagel
Ich, fünf Jahre alt, bekomme von meiner Mutter die Aufgabe übertragen, mit der Milchkanne loszuziehen, um im Milchladen einen Liter Milch zu kaufen.
Etwas unheimlich ist mir zumute, weil es das erste Mal ist, dass mir aufgetragen wird, alleine einkaufen zu gehen. Ängstlich fragend schaue ich meine Mutter an: „Ja, wie soll ich das denn machen?“ Die Mutter: „Aber das weißt Du doch, das haben wir zusammen schon oft genug gemacht. Du gehst die Straße hoch, und wenn Du oben bei der großen Straße, wo die vielen Autos fahren, ankommst, schaust Du, bevor Du rübergehst, erst nach links, dann nach rechts, ob auch kein Auto kommt. Ganz so, wie wir das immer zusammen machen.“ „Ja“, das habe ich verstanden, „aber im Laden, was soll ich denn im Laden sagen?“ Da ich sehr schüchtern war, war es nicht einfach für mich, etwas sagen zu müssen. Die Mutter: „Im Laden sagst Du: Ich hätte gerne einen Liter Milch bitte. Und dann gibst Du der Verkäuferin die Milchkanne und das Geld.“ Ich schlucke, will mich aber tapfer auf den Weg machen. Da tönt es von ferne: „Ech auch!“ Mein dreijähriges Schwesterlein kommt um die Ecke gewatschelt. Es treibt sie große Sorge, dass sie etwas verpassen könnte. „Ech auch!“, verlangt sie energisch. Ich fühle mich mit ihr im Schlepptau überfordert. Sie kann lammfromm sein, ist aber unberechenbar und eigenwillig. Da habe ich so meine Erfahrungen. „Ech auch!“ Gleich lässt sie ihre berühmten Tränen kullern, wenn sie nicht mitdarf. „Na gut“, schlägt die Mutter vor. „Die Stella nimmt dich fest an die Hand, und dann geht Ihr zu zweit.“ Der kleinen Dame wird dringlich eingeschärft: „Du lässt nicht die Hand los, hörst Du? Und Du tust, was die Stella sagt. Hast Du das verstanden?“ „Ja“, das Schwesterlein verspricht es hoch und heilig und schaut Mutter und Schwester überaus brav an.
So ziehen wir beide denn los. Das kleine Schwesterlein benimmt sich mustergültig an der Hand und ist bemüht, strammen Schritts mit mir, der großen Schwester, Schritt zu halten. Ich bin beruhigt, weil die Kleine so willig ist und nicht droht, mir Schwierigkeiten zu machen.
Ohne Zwischenfall kommen wir an der großen Straße an. Als ich nun vorschriftsmäßig, wie ich es gelernt habe, erst nach links, dann nach rechts schaue, reißt sich das Schwesterlein von meiner Hand los, und läuft eigenmächtig die Straße weiter rauf. Voller Angst rufe ich sie zurück, doch sie denkt nicht daran zurückzukommen. Mit einem eigensinnigen „Ech gehe woanders rüber“ will sie über die Straße. „Nein, halt, das darfst Du nicht!“, rufe ich in höchster Not. Sie aber schießt blindlings ohne nach links und rechts zu schauen, genau dort, wo sie es für richtig hält, über die Straße. Gott sei Dank kommt kein Auto und das Schwesterlein ist heil und unversehrt hinüber gelangt. Aufgelöst nehme ich ihr das Versprechen ab, beim Rückweg an meiner Hand zu bleiben, und vorsorglich drohe ich ihr noch großen Ärger und Haue an, sollte sie mir nicht gehorchen. Da schaut sie mich wieder lammfromm an, als wäre gar nichts gewesen und verspricht, nicht noch einmal davonzulaufen.
Im Laden angekommen übergebe ich die Milchkanne und trage schüchtern, aber gesittet mein Sprüchlein vor: „Ich hätte gerne einen Liter Milch bitte.“ Deutlich und ganz ohne Schüchternheit bringt auch das Schwesterlein ein Sprüchlein an: „Und ech hätte gern ein Bombom!“ erklärt sie bestimmt. Ich schäme mich entsetzlich, aber sie bekommt, was sie will, und auch ich bekomme ein Bonbon, sozusagen einen Trostpreis, denn den habe ich nun bitter nötig. Und natürlich konnten mich nach diesem Erlebnis keine zehn Pferde jemals wieder dazu bringen, mein Schwesterlein zum Einkaufen mitzunehmen.