von Ingo Hagel
Hier in diesem Zusatz zum dritten Kapitel seiner „Philosophie der Freiheit“ geht Rudolf Steiner auf Einwände ein, die glauben, beim Denken handele es sich doch um genau dasselbe Verhältnis zwischen „Ich“ und Gegenstand wie beim Fühlen und Wollen:
Wer diesen Einwand macht, der zieht nicht in Erwägung, daß nur in der Betätigung des Denkens das „Ich“ bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß. –
Das ist angesichts des angesprochenen monumentalen Tatsachenzusammenhanges eine ausgesprochen höfliche, liebenswürdige und jede Aufdringlichkeit ausschließende Formulierung:
… der zieht nicht in Erwägung …
Sie ist umso auffälliger, weil Rudolf Steiner in diesem kurzen Zusatz zum dritten Kapitel seiner „Philosophie der Freiheit“ auch erstaunlich scharf und brüsk – vielleicht sogar ruppig – abweisend sein kann. Ich komme darauf noch zurück.
Vielleicht hat Rudolf Steiner das so höflich formuliert,
weil es dem Leser der „Philosophie der Freiheit“ doch –
zumindest am Anfang seines Studiums –
überhaupt gar nicht klar sein kann, dass das so ist, wie Rudolf Steiner es in diesem Satz ausspricht. Denn das Verstehen dieses Satzes hat nichts mit Logik oder gewöhnlichem – auch nicht philosophischem – Verstehen zu tun. Zum Verstehen dieses Satzes –
Wer diesen Einwand macht, der zieht nicht in Erwägung, daß nur in der Betätigung des Denkens das „Ich“ bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß. –
muss man sich erst hinarbeiten. Man muss die Bedeutung und die Richtigkeit dieses Satzes „in Erwägung ziehen“. –
Und die Darstellung dieses Zusammenhanges in Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“ kann einem Veranlassung sein, in seinem Innern diejenigen Gedankenwege und Gedankenbewegungen zu suchen, die diesen Satz realisieren können. –
Rudolf Steiner wusste sicher um die Schwierigkeit
eines erlebnismäßigen Nachvollziehens dieses Satzes. Es gibt Betätigung, Tätigkeit, und einen Tätigen – und das Alles muss nun
bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit
zusammenkommen. Man muss das Alles ja nicht gleich für wahr halten, sondern man kann es nur langsam zu einem eigenen Erlebnis verdichten – indem man es tut. Dazu könnte man das Ganze einfach mal „in Erwägung ziehen“,
… daß nur in der Betätigung des Denkens das „Ich“ bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß.
Bei genauerer Betrachtung dieses oben angeführten Satzes
kann man allerdings doch stark ins Nachdenken kommen. Denn dass das „Ich“ in der Betätigung des Denkens tätig ist, sogar bis in alle Verzweigungen seiner Tätigkeit, das dürfte klar sein. Aber dass es dabei
bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß,
das erschließt sich nicht so ohne weiteres. Denn es ist doch das „Ich“, das tätig ist. Dabei geht man doch in seinem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein davon aus, dass das „Ich“ weiß. Ich weiß – sagt man doch jeden Tag wohl mehrere Male –
meistens abwehrend, wenn Jemand die eigene Aufmerksamkeit auf unbeachtete Gebiete der Erkenntnis oder gar erkenntnismäßiges Neuland richten möchte. –
Warum soll das „Ich“ denn nun plötzlich nicht wissen – beziehungsweise erst langsam zu einem Wissen hingeführt werden?
… daß nur in der Betätigung des Denkens das „Ich“ bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß.
Aber was ist unser gewöhnliches „Ich“ des Alltags denn Anderes,
als nur so eine Art grobmaschiger Jutesack –
der allerdings in der heutigen Zeit immer löchriger und faseriger wird, weil er sich auflöst und seinen Inhalt – nämlich Denken, Fühlen und Wollen – freigibt – was in der Zukunft immer unangenehmer werden wird, wenn man sich nicht bewusst darum kümmert, den freiwerdenden Inhalt des löcherigen Jutesackes bewusst zusammenzuhalten –
gefüllt mit den Eindrücken der Sinneswelt, auf die sich dieses schwache „Ich“ abstützen darf, um die Illusion erleben zu dürfen, sein „Ich“ ein wenig selbst zu erfahren –
und dabei nicht gleich ins Bodenlose versinken zu müssen, weil dieses „Ich“ doch eigentlich nicht vorhanden ist. –
Dieses Sinneswelt-„Ich“ ist also gerade nicht „Ich“.
Denn nimmt man die Eindrücke dieser Sinneswelt beziehungsweise des eigenen Leibes weg, dann ist auch dieses „Ich“ nicht mehr da – und geht alles gesund und natürlich, dann schläft der Mensch eben einfach ein, weil er gar nicht daran gewöhnt ist, ein Erlebnis eines „Ich“ zu haben ohne Sinneswelt. Ist also der löcherige Jutesack –
das heißt der sich in der heutigen Zeit immer mehr konstitutionell auf die reale geistige Welt zubewegende Mensch –
in seinem Alltag und in seinem gewöhnlichen Bewusstsein mit nichts Anderem ausgefüllt als mit den Dingen der Sinneswelt, dann schläft er eben mit Bezug auf die Wahrnehmung seines „Ich“ –
und selbstverständlich auch mit Bezug auf viele andere geistige Angelegenheiten des Lebens –
letzteres allerdings meistens mit offenen Augen. Aber das ist heute eben der beklagenswerte Normalzustand der Menschheit. Dieses „Ich“ des Alltags und des gewöhnlichen Bewusstseins ist daher nichts anderes als eine derbe Illusion und Täuschung.
Die „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners möchte den Menschen
zu einer ersten, anfänglichen, man könnte sagen punktuellen Anschauung ihres „Ich“ verhelfen. Bei dieser oben angeführten Tätigkeit eines wirklichen Denkens im Sinne der „Philosophie der Freiheit“ –
denn etwas anderes kommt hier selbstverständlich nicht infrage –
ist es also so, dass sich dieses „Ich“ –
ganz im Gegensatz zu den anderen Gebieten seiner Tätigkeit, also des Fühlens und des Wollens –
in einer vorher nie realisierten Weise in den Blick bekommt. Es realisiert auf eine ganz neue Art das, wovon man im gewöhnlichen Bewusstsein meistens ziemlich ungedeckt als Selbstbewusstsein, also Bewusstsein des eigenen Selbst, also des eigenen „Ich“ träumt.
Das richtige Lesen der „Philosophie der Freiheit“ bedeutet damit
den wirklichen Anfang eines realen geistigen Selbsterkennens des Menschen. Der Mensch erkennt sich selbst als Denkender – und nur als Denkender.
Dass diese Art des sich selbst Erkennens des Menschen anhand der Gedanken der „Philosophie der Freiheit“ nur ein erster Anfang ist, der im weiteren Beschreiten des Weges sich ganz organisch zu dem entwickeln kann, was die übersinnlichen Erkenntnisstufen von Imagination, Inspiration und letztlich Intuition darstellen, ergibt sich dem, der mit dieser Materie ein wenig näher vertraut ist, eigentlich von selbst, braucht auch den, der die „Philosophie der Freiheit“ sich erarbeiten will, erst einmal gar nicht zu interessieren, wird dazu auch gar nicht benötigt – und wird hier daher sozusagen nur in Parenthese angemerkt.
Dass aber die Art, wie die „Philosophie der Freiheit“ den Menschen zu einer Anschauung seines „Ich“ führen will, der Anfang eines geistigen Erkenntnisweges ist, das dürfte auf der Hand liegen. Denn der Mensch ist ein geistiges Wesen, nicht ein körperliches Wesens mit ein paar seelischen Eigenschaften. Der Mensch stammt aus dem Geist, und will er sich – sein „Ich“ – wirklich erkennen, dann kann das nicht auf eine sinnlich-anatomisch-physische, sondern nur auf eine reale geistige Weise geschehen. Dazu möchte die „Philosophie der Freiheit“ beitragen.
Diese „Philosophie der Freiheit“ ist ganz im reinen Denken geschrieben.
Während das abstrakte, tote Denken entlang der Sinneswelt dem Menschen sein „Ich“ zudeckt, ist dieses reine Denken der Schöpfer des Ich:
Für das Ich ist es nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Denken ist der Schöpfer des Ich.
Indem der Mensch dieses reine, sinnlichkeitsfreie Denken übt, kommt er sukzessive zu einem Erlebnis seines „Ich“. In der „Philosophie der Freiheit“ liest sich diese Betätigung des „Ich“ im Zusatz zum dritten Kapitel eben so:
Wer diesen Einwand macht, der zieht nicht in Erwägung, dass nur in der Betätigung des Denkens das „Ich“ bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß.
Man kann aus diesem Satz entnehmen, dass das „Ich“ bis dahin eben noch nicht
bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß.
Mit wem kann sich das „Ich“ also als ein Wesen wissen?
Natürlich mit der anderen, bis dahin unerkannten Seite seines Wesens, die durch diese Tätigkeit des reinen Denkens langsam immer mehr in das geistige Gesichtsfeld rückt. Denn es ist ja das „Ich“, das tätig ist. –
Mag es das Wesen des Denkens immerhin notwendig machen, daß dieses gewollt wird: es kommt darauf an, dass nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem „Ich“ nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. –
Nur ist es eben auf der einen Seite das alte, gewöhnliche „Ich“, und auf der anderen Seite dann immer mehr das „Ich“, das durch das reine Denken sich selber gewahr wird, von sich selber im reinen Denken ein völlig neues Erlebnis schafft.
Nun soll das „Ich“ alle diese unerkannten, unbekannten, unerforschten Labyrinthe
und Verzweigungen seines Wesens in das Licht des Bewusstseins holen. Dazu muss man sich allerdings von dem, was man im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein für Denken hält –
wenigstens erst einmal für die Zeit des Studierens der „Philosophie der Freiheit“ –
verabschieden:
Man sollte nur nicht verwechseln: «Gedankenbilder haben» und Gedanken durch das Denken verarbeiten. Gedankenbilder können traumhaft, wie vage Eingebungen in der Seele auftreten. Ein Denken ist dieses nicht. – Allerdings könnte nun jemand sagen: wenn das Denken so gemeint ist, steckt das Wollen in dem Denken drinnen, und man habe es dann nicht bloß mit dem Denken, sondern auch mit dem Wollen des Denkens zu tun. Doch würde dies nur berechtigen zu sagen: das wirkliche Denken muss immer gewollt sein. Nur hat dies mit der Kennzeichnung des Denkens, wie sie in diesen Ausführungen gemacht ist, nichts zu schaffen. Mag es das Wesen des Denkens immerhin notwendig machen, daß dieses gewollt wird: es kommt darauf an, dass nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem „Ich“ nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint.
Und da haben wir diese schroffe, brüske Formulierung Rudolf Steiners,
auf die ich oben einleitend hinwies:
Nur hat dies mit der Kennzeichnung des Denkens, wie sie in diesen Ausführungen gemacht ist, nichts zu schaffen.
Es kommt eben nicht allein auf den Willen zum Denken an, denn dass das Denken gewollt sein muss, ist eine uralte Binsenweisheit –
was nicht heißt, dass sich das mittlerweile schon wie selbstverständlich in die Kulturbetätigung der menschlichen Gesellschaften eingearbeitet hat. –
Vielmehr kommt es
darauf an, dass nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem „Ich“ nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint.
Bis jetzt hat da irgendeine unbekannte Macht im eigenen Innern als Denken gewirtschaftet. Nun muss man lernen, selber zu denken und das eigene Denken anzuschauen.
Gewolltes Denken und angeschaute Beobachtung des Denkens müssen zusammenkommen,
müssen zusammenfallen, zur Deckung gebracht werden.
Alles noch so gewollte bis erhitzte Denken über das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Faust, Goethe) ist zum Scheitern verurteilt, weil dieses gewöhnliche Denken, das die Sinneswelt zur Grundlage hat, und sei es noch so scharfsinnig, über die wahren Lebenswirklichkeiten nichts ausmachen kann.
Und alles noch so nüchterne, sachliche, kühle Beobachten hat nur eine Geltung für diese tote Welt der Naturwissenschaft, weil sie zu etwas Anderem nicht die Erkenntniskräfte entwickelt hat.
Dem heißen alten Denkwillen muss nun gleichzeitig die kühle Nüchternheit der Beobachtung des im reinen Gedankens Hervorgebrachten an die Seite gestellt werden. Das ist das neue Gleichgewicht, der neue Lebensmittelpunkt. Von da aus geht es weiter. Ohne dieses geht es – auch im Sozialen – nicht mehr im guten Sinne weiter.
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