Begrüßung vor der Eurythmie

  

von Stella Hagel

 

Wenn ich zur Eurythmie in eine Kindergruppe komme, sitzen die Kinder wartend im Kreis und spielen verschiedene Fingerspiele. Ich gehe zu jedem Kind, um es zu begrüßen. Mit jeder der elf Gruppen, die ich in der Woche besuche, hat sich ein anderes kleines Ritual ergeben. So zeigen mir manche gerne ihre ganze Kraft, indem sie meine Hand mit beiden Händen fest drücken. In einer Gruppe, in der ich schon sehr früh am Morgen beginne, habe ich zu raten, welches Frühstück ihnen so viel Kraft gegeben hat. Mit einer anderen Gruppe ist entstanden, dass sich meist ganz zart nur unsere kleinen Finger kreuzen. In wieder einer anderen Gruppe verschränken die Kinder ihre Händchen so kompliziert wie es ihnen möglich ist, und ich habe zu ihrer Freude das winzige Löchlein zu entdecken, in welches ich die Erlaubnis bekomme, einen Finger zur Begrüßung hinein zu stecken. Manchmal taucht aus der Verschlingung der Fingerchen ein besonderes auf, welches ich zart ergreifen darf, und das stellvertretend die kleine Carolin oder der kleine Anton ist. Die Kinder sind sehr fantasievoll, und ich kann durch diese Art der Begrüßung etwas von der Eigenart des einzelnen Kindes sowie der ganzen Kindergruppe erleben. In einer Gruppe zum Beispiel geben wir uns ganz normal einfach nur die Hand. Das Besondere dabei ist, dass mir jedes Kind etwas erzählen darf. Etwas, was ihm gerade die Seele bewegt. Bei den meisten ist die Seele voll von kleinen Erlebnissen, die sie gerne berichten möchten. Oft habe ich aber auch nur eine kleines „Wehweh“ liebevoll zu beachten. Manchmal kommt es vor, dass ein Kind vom Tod eines Tieres oder eines alten Menschen (Großeltern) berichtet. Dann wird die Stimmung wohlig-schaurig trübe, und fast jedes Kind weiß eine traurige Geschichte vom Tod zu erzählen. Die Kinder genießen diese Stimmung so sehr, dass ich in der nächsten Woche manchmal geschickt ablenken muss, damit sie nicht wieder alle möglichen traurigen Geschichtchen ohne Ende erzählen, und wir dann nicht zum Eurythmiemachen kommen. 

Manchmal gibt es kleine Buben, die erstaunlich folgerichtig die Funktion eines Gerätes in vielen Einzelheiten erklären können und darauf brennen, es auch zu tun. Da kann ich dann nur staunen. Oder sie beschreiben sehr genau ein Schiff, mit dem sie in den Ferien gefahren sind, und ich merke, wie genau und interessiert sie beobachtet haben. 

Bei manchen Kindern, wenn sie neu kommen, dauert es etwas, bis sie den Mut haben, mir die Hand zu geben. Ingolf zum Beispiel war am Anfang ein scheues Kind. Inzwischen ist er im Kindergarten ganz zu Hause und bewegt sich dort wie ein Fisch im Wasser. Wahrnehmbar liebt er alles, was dort getan wird und ist mit Leib und Seele dabei. Oft wird er ganz rot vor Freude über irgendetwas, was zum Beispiel während der Eurythmie in einer Geschichte auftaucht. Als ich ihn das erste Mal begrüßen wollte, war er sehr blass und ängstlich, stützte seine Händchen hinter dem Rücken auf dem Stuhl und sagte Verständnis suchend zu mir: „Weisst Du, ich muss mich noch ein bisschen abstützen.“ 

Die Kinder sitzen immer in einem Kreis auf ihren Stühlchen und warten auf mich, wenn ich komme, um mit ihnen Eurythmie zu machen. Ich begrüße sie nacheinander mit Namen. Julius, fünf Jahre, ist neu im Kindergarten. Als ich bei ihm bin und ihn nach seinem Namen frage, erfahre ich diesen von den anderen Kindern. Julius selbst aber verneint. „Nein, der bin ich nicht, ich bin der Feuerwehrmann!“ In der nächsten Woche frage ich ihn: „Na, bist Du wieder der Feuerwehrmann?“ „Nein“, meint Julius, „heute bin ich der Polizist!“ Beim nächsten Mal ist er der Lokführer. Und dann frage ich in der darauffolgenden Woche wieder: „Nun, wer bist Du denn heute?“ „Ab jetzt bin ich der Julius!“ Freundlich und angekommen schaut er mich an, und ab da bleibt er immer unser Julius. 

Einmal begrüße ich ein neues, etwa vierjähriges Mädchen in der Gruppe. Sie sieht mich ernst an, gibt mir sofort die Hand, sagt aber kein Wort. Katharina sitzt neben ihr und gibt Auskunft: „Das ist meine Freundin, die wohnt bei uns in der Nähe und heißt Charlotte.“ Charlotte ist in der Eurythmie sehr aufmerksam und formt alle Gebärden, als hätte sie schon viel Eurythmie gemacht. An einer Stelle in unserer Geschichte, bei der es etwas zu essen gibt, schlagen die Kinder meistens ihre Lieblingsgerichte vor und es wird etwas lebhaft. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, und wir uns für ein Gericht entschieden haben und es eurythmisch essen wollen, tönt in die Stille ein von mir noch nie gehörtes Stimmchen voller Verdrießlichkeit: „Ach, ich hab doch überhaupt keinen Hunger.“ So also klingt Charlottes Stimme!