Rudolf Steiner: An dem Toten muß seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der Geist geboren werden, wenn der Geist in das menschliche Seelenleben überhaupt hereintreten soll.

 

Aus Nr. 190 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 186:

Die naturwissenschaftliche Denkweise ist geistlos. Die naturwissenschaftliche Denkweise enthält gerade, wenn sie groß ist, nicht ein Stückchen Geist, gar nichts Geistiges. Alle naturwissenschaftlichen Begriffe, alle Begriffe von Naturgesetzen sind geistlos, weil sie nur Schattenbilder vom Geiste sind, weil im Bewusstsein, wenn man etwas weiß von Naturgesetzen, nichts vom Geist anwesend ist. Man kann dann zwei Wege gehen. Man kann sich der Naturwissenschaft hingeben, wie viele sich ihr heute hingeben, kann stehenbleiben bei dem, was die Naturwissenschaft gibt; dann wird man geistlos. Man kann gerade dadurch ein großer Naturforscher sein, aber man muss geistlos sein. Das ist der eine Weg. 

Der andere Weg ist der, dass man die Geistlosigkeit der Naturwissenschaft gerade da, wo sie in ihrer Größe aufgetreten ist, innerlich tragisch erlebt, dass man mit seiner Seele untertaucht in das Naturwissen. Wenn man mit seiner Seele untertaucht in dasjenige, was an abstrakten Naturgesetzen, die sehr interessant sind und in manches hineinleuchten, gefunden wurde, die aber geistlos sind, wenn man untertaucht in die Naturgesetze der Chemie, der Physik, der Biologie, die am Seziertisch gewonnen werden und schon dadurch andeuten, wie sie von dem Lebendigen nur das Tote geben, wenn man versucht, mit dem nicht nur in menschlichem Hochmut als einer Erkenntnis zu leben, sondern wenn man versucht zu fragen: Was gibt das der menschlichen Seele? – dann ist es erlebt! Das gibt nichts von Geistlosigkeit. Das ist ja auch das tragische Problem Nietzsche, der gerade an dem Empfinden der Geistlosigkeit der modernen naturwissenschaftlichen Bildung in seinem Seelenleben zerklüftet und zerrissen wird. 

Und dann kann die Reaktion eintreten im Inneren der Seele. Dann kann man erleben, wie im Anschauen der Natur der Geist ganz stumm, ganz schweigsam bleibt, nichts sagt. Die Seele bäumt sich auf, nimmt ihre Kraft zusammen, sucht dann aus dem Inneren heraus den Geist zu gebären. Das kann nur in dem Zeitalter geschehen, in dem die unmittelbare Naturanlage bei solchen Menschen wie denen der mitteleuropäischen bürgerlichen Bildung nicht vorhanden sind, und an die herantritt naturwissenschaftliche Kultur. Dann, wenn sie nicht innerlich tot sind, wenn sie innerlich lebendig sind, dann rafft sich in ihrem Inneren der Impuls des Geistes selbst auf. An dem Toten muß seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der Geist geboren werden, wenn der Geist in das menschliche Seelenleben überhaupt hereintreten soll. Daher werden diejenigen, die nur mit der klassischen Bildung jenen Nachduft des Griechischen ausleben, der das Seelenhafte des Geistes durch des Menschen eigene Seele durchpulsieren lässt, noch befriedigt sein können in dem inneren Erleben, das ihnen gibt die Empfindung dieses griechischen Seelen-Geistes, dieser griechischen Geistes-Seele. Diejenigen aber, die genötigt sind, mit der Naturwissenschaft innerlich lebendig Ernst zu machen und ihren Tod, ihr Leichnamhaftes zu empfinden, die werden dann den Geist in ihrer Seele erstehen lassen. 

Man muss schon, um in der neueren Zeit ein wirkliches unmittelbares Erlebnis vom Geist zu haben, nicht nur in Laboratorien gewesen sein und dort Zyansäure oder Ammoniak gerochen oder im Seziersaal gewesen sein und die frischen Präparate der Leichen angeschaut haben, man muss aus der ganzen naturwissenschaftlichen Richtung heraus den Leichenduft verspürt haben, um aus dieser Empfindung heraus zu dem Licht des Geistes zu kommen. Das ist ein Impuls, der in neuerer Zeit aufleben muss. Das ist eine der Prüfungen, die die Menschen durchmachen müssen in der neueren Zeit. Die Naturwissenschaft ist viel mehr dazu da, die Menschen zu erziehen, als Wahrheiten über die Natur zu vermitteln. Nur der naive Mensch kann glauben, dass in irgendeinem Naturgesetz, das die gelehrten Naturwissenschafter verzeichnen, eine innerliche Wahrheit ist. Nein, die ist nicht drinnen; aber zur Erziehung der Menschen zum Geiste ist gerade die geistlose Naturwissenschaft da. Das ist eine von jenen Paradoxien der weltgeschichtlichen Entwickelung der Menschheit. 

So leuchtete erst in der neuesten Zeit – in der Zeit, die den Goetheanismus ablöste, denn da kam erst die eigentliche Leichenhaftigkeit, das eigentliche Tote der Naturwissenschaft herauf – der Geist, allerdings nur für diejenigen Menschen, die sein Licht empfangen wollten. Und so schützten sich die Menschen bis zur Goethe-Zeit und noch Goethe selber gegen das Verheerende eines in den Staatszwang hineingefesselten Geisteslebens dadurch, daß sie im Grunde genommen das griechische Geistesleben verarbeiten, das ja dem modernen Staate nicht angehörte, weil es überhaupt der modernen Zeit nicht angehörte. Die Abtrennung des Geisteslebens von dem Staatsleben wurde surrogativ dadurch besorgt, dass man ein fremdes Geistesleben, das griechische, in sich aufnahm. Dieses griechische Geistesleben, das war es eben, welches die innere Geistleerheit der neueren europäischen Welt überhaupt zudeckt. Das war auf der einen Seite.  …  

 

 

 

 

 

 

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