Alnatura und die Lohnfrage im „anthroposophischen Unternehmertum“

von Ingo Hagel

Ende März 2010 erhielt Götz Rehn, „Gründer, Geschäftsführer und alleiniger Eigentümer von Alnatura“ in der taz unter der Überschrift „Ein Ökokapitalist sahnt ab“ negative Schlagzeilen wegen der untertariflichen Bezahlung der Angestellten seiner Bio-Supermarktkette. So betrug der niedrigste Stundenlohn umgerechnet 7,50 Euro.

„Das liegt 16 Prozent unter dem geringsten Gehalt, das die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) und der Arbeitgeberverband im Tarifvertrag für die Hauptstadt festgelegt haben. … Die Verkäuferin, die an der Kasse der Kreuzberger Filiale sitzt und sich um die Abteilung für Milchprodukte kümmert, erhält auf jeden Fall weniger: 9,73 Euro pro Stunde. Gemäß Tarifvertrag müsste sie mit ihrer Berufserfahrung mindestens 12,98 Euro verdienen – also 33 Prozent mehr.“

Viele bekannte Medien berichteten über die Lohnproblematik bei Alnatura. Auch der FOCUS machte unter der Überschrift „Yoga statt Tariflohn“ auf Widersprüche zwischen Firmenphilosophie und Realität aufmerksam: „Für die Biokette Alnatura ist der Mensch „Ziel und Grundlage“ des Handelns. So verheißt es die Werbung. Tatsächlich aber steht das Unternehmen im Verdacht, Dumpinglöhne zu bezahlen.“ Nach drei Tagen Medienbeschuss lenkte Alnatura ein und versprach, künftig allen Mitarbeitern mindestens Tariflöhne zu zahlen. „Rehns anfängliche Verteidigungslinie war auch denkbar schwach“schrieb die taz.

Wilhelm Neurohr hat in der Zeitschrift Sozialimpulse (Nr. 2/2010) eine lesenswerte Darstellung der Alnatura-Debatte sowie Perspektiven zur Frage nach „gerechten Löhnen und Preisen im Bio-Handel“ publiziert. Er schrieb zusammenfassend:

„Diese öffentliche Debatte über die Fragen fairer Löhne und Preise hat den untrennbaren wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen Naturgrundlagen, Produktionskosten, Löhnen und Preisen einmal mehr verdeutlicht und ist es wert, vertieft zu werden. … Vieles gilt in ähnlicher Weise auch für den Warenhandel etwa in der marktbeherrschenden uniformen Drogeriemarktkette dm, der die vielen kleinen Drogerien mit ihren eigenen Qualitätsansprüchen reihenweise zum Opfer gefallen sind (zwar hat dm-Gründer Götz Werner die Führung im Unternehmen abgegeben, aber „sein Nachfolger hat bereits Pläne für hunderte neuer Märkte“; Anmerkung IH). Ohne wirklich assoziatives Wirtschaften ist und bleibt die Ausbreitung großer Handelsketten offensichtlich problematisch. … Viele interessante Fragen aus dem Blickwinkel der sozialen Dreigliederung lassen sich an diesem aktuellen Konfliktfall auch öffentlich thematisieren, wobei nicht jede Marktstrategie gut zu heißen ist, die zwar ihren Ausgangspunkt im Ansatz eines hohen Ideals hatte, aber auf dem weiteren Weg in Problembereiche gelangt, die zu einer Abkehr von den eigenen Idealen und Ansprüchen führen. …  Es ist Verdienst der Journalisten, mit ihrem kritischen Pressebericht ein intensiveres Nachdenken darüber angestoßen zu haben und im Endeffekt auch ein auskömmliches Einkommen für die bei Alnatura Tätigen erwirkt zu haben.“

In der Ausgabe Juli/August 2010 der Zeitschrift EVE („das moderne Naturkost-Magazin“) (die auch bei Alnatura kostenlos ausliegt) wurde der Bio-Unternehmer dagegen kritiklos gelobt: „Rehns Ziel ist es, zu zeigen, dass ein nachhaltiges Unternehmenskonzept auch wirtschaftlich funktioniert.“ Die Zeitschrift zitierte Rehn mit Sätzen wie: „Wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, erhält unser wirtschaftliches Handeln eine andere Sinnbestimmung. Es geht nicht mehr darum, die ökonomischen Kriterien in den Vordergrund zu stellen.“ Und: „Es ging mir vor allem darum, ein Unternehmen zu erproben, das radikal am Menschen orientiert ist.“ Obwohl hier (gerade mit Blick auf die geschilderte Debatte um die Entlohnung der Mitarbeiter bei Alnatura, die der Zeitschrift EVE kaum entgangen sein dürfte) idealistischer Anspruch und Realität offensichtlich auseinanderklaffen, meinte EVE mit Blick auf Götz Rehn: „Der ehemalige Waldorfschüler gilt als erfolgreiches Beispiel anthroposophischen Unternehmertums.“ Das wirft einmal mehr die Frage auf, was denn eigentlich „anthroposophisches Unternehmertum“ eigentlich ist, zumal Alnatura in vielen Medien – wie zum Beispiel auch der taz mit der Überschrift „Ein Ökokapitalist sahnt ab“ – als ein „an der anthroposophischen Weltanschauung ausgerichtetes Unternehmen“ bezeichnet wird. Zudem wurde Rehn im Juni 2007 zum neuen Honorarprofessor im Fachbereich Wirtschaft der anthroposophisch orientierten Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft ernannt, was ebenfalls eine bedeutende Außenwirkung für das Bild eines „anthroposophischen Unternehmertums“ in der Öffentlichkeit haben dürfte.

Gerade an dem (gesellschaftlich höchst aktuellen) Problem des Lohns bei Alnatura stellt sich die Frage, ob das Bild, welches das sogenannte „anthroposophische Unternehmertum“ in der Öffentlichkeit abgibt (beziehungsweise das von ihnen in den Medien gezeichnet wird) übereinstimmt mit demjenigen, das Rudolf Steiner als Begründer (der Anthroposophie und) einer anthroposophischen Sozialwissenschaft entwarf.

Anmerkung: Ich unterscheide hier zwischen einem anthroposophischen Unternehmer (beziehungsweise einem an der Anthroposophie interessierten Unternehmer) und „anthroposophischem Unternehmertum“. Ersterer kann durchaus einfach in erster Linie normaler, klassischer Unternehmer sein und nebenher, im Privaten, Menschlichen für sich mit der Anthroposophie beschäftigen. Die beiden Tätigkeitsbereiche haben dann erstmal nichts miteinander zu tun, und daran ist nichts auszusetzen. Forderungen an ein irgendwie besonderes, neues Unternehmertum können nicht gestellt werden, da das anthroposophische Anliegen des Unternehmers völlige Privatsache ist. – Im zweiten Falle wird der Anspruch gestellt, das „Anthroposophische“ durchdringe das Unternehmertum, verwandelt es, formt es um, so dass es sich nun in verschiedener Hinsicht vom gängigen Unternehmertum unterscheidet. Das „Anthroposophische“ ist nun nicht mehr eine private Angelegenheit sondern wird öffentlich, womit – berechtigterweise – bestimmte Erwartungen an das „Anthroposophische“ des nun „anthroposophischen Unternehmertums“ verbunden werden.

Denn mit der Meldung von Alnatura, dass nun kein Mitarbeiter mehr unter Tarif bezahlt wird, ist das Problem der Lohnfrage ja nicht im Sinne eines „anthroposophischen Unternehmertums“ gelöst, wenn man damit den Sozialgedanken Rudolf Steiners meint (s.u. Anmerkungen), noch überhaupt einem zeitgemäßen Empfinden der Menschen entspricht. An dieser Stelle soll daher einiges dazu dargestellt werden.

Anmerkung: Der Sozialgedanke Rudolf Steiners (das heißt, das Konzept und die Ideen der sozialen Dreigliederung) hat als Möglichkeit und Realisierung eines neuen Sozialmodells in der Gesellschaft erstmal nichts mit der Anthroposophie (einer Weltanschauung unter Einbeziehung übersinnlicher Erkenntnisse) zu tun. Er ist als gesellschaftliche soziale Praxis völlig unabhängig von dieser. Bei der Sozialen Dreigliederung und der Anthroposophie handelt es sich um zwei eigenständige Themenkreise, die nichts miteinander zu tun haben, außer dass sie vom selben Menschen (Rudolf Steiner) in die Welt gestellt worden sind. Wer die grundlegende Schrift Rudolf Steiners zur Sozialen Dreigliederung, „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ liest, wird bemerken, dass darin kein Bezug auf (die in anderen Werken dargestellten) Inhalte der Anthroposophie genommen wird. Man kann als Mensch, Kunde, Konsument, Unternehmer etc. durchaus zu den Ideen der sozialen Dreigliederung hinneigen, ohne für die Anthroposophie ein Bedürfnis zu empfinden – so, wie man ein Auto fahren kann, ohne selbst Erfinder oder Ingenieur sein zu müssen.

Für die Vertreter der Sozialen Dreigliederung selber gilt das aber nicht: „Heute steht eben die Anthroposophische Gesellschaft vor der Notwendigkeit, nicht bloß zuzusehen der wirklichen anthroposophischen Arbeit und daneben allerlei zu begründen, ohne dass man diesen Begründungen den anthroposophischen Eifer und anthroposophischen Enthusiasmus zugrunde legt, heute steht die Anthroposophische Gesellschaft vor der Notwendigkeit, sich bewusst zu werden der anthroposophischen Arbeit. Das ist eine ganz positive Bezeichnung ihrer Aufgabe, die nur in den Einzelheiten ausgeführt zu werden braucht. Sonst, wenn dieses Positive nicht unternommen wird, führt das dazu, dass Anthroposophie durch die Anthroposophische Gesellschaft vor der Welt geschädigt und immer mehr geschädigt würde. Wie viele Gegnerschaft hat zum Beispiel die Dreigliederungsbewegung der anthroposophischen Bewegung deshalb gebracht, weil die Dreigliederungsbewegung nicht verstanden hat, sich auf anthroposophischen Boden zu stellen, sondern sich auf den Boden aller möglichen Kompromisse gestellt hat, und man nach und nach in einzelnen Kreisen anfing, Anthroposophie zu verachten. In ähnlicher Weise geht es auf anderen Gebieten“ (Rudolf Steiner, GA 257).

Anmerkung: Es kann hier nicht das Ziel sein, Rudolf Steiners Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus darzustellen, da viele seiner Bücher und Schriften dazu kostenlos Online zum Download bereitstehen. – Zur sozialen Dreigliederung in Kürze: Es gilt heute immer noch, was Rudolf Steiner zum Beispiel 1919 (GA 24) schrieb, nämlich „dass die gegenwärtige Lage nicht gebessert werden kann durch die bloße Umgestaltung des Wirtschaftslebens, sondern durch die Loslösung des Geisteswesens und Rechtswesen von dem Wirtschaftsleben in dem dreigliedrigen gesunden sozialen Organismus. … Denn dieses neuere Kulturleben hat zur Abhängigkeit alles Nicht-Wirtschaftlichen vom Wirtschaftlichen geführt: in der Aufhebung dieser Abhängigkeit, nicht in einer noch größeren Abhängigkeit, liegt die Gesundung.“

Zum Thema soziale Dreigliederung gibt es viele gute Arbeiten auf verschiedenen Homepages wie zum Beispiel (kein Anspruch auf Vollständigkeit): Sozialimpulse – Initiative Netzwerk Dreigliederung , s. dort die Studientexte zur Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage zB: Geisteswissenschaft und soziale FrageSolidarische Ökonomie – Die Frage nach dem gerechten Preis sowie Dreigliederung kontrovers – Impulse und Perspektiven der sozialen Dreigliederung im 20. und 21. Jahrhundert. – Eine weitere Homepage stellt das Institut für soziale Dreigliederung zur Verfügung. Dort sind auch Werner Breimhorsts Studien zu den für die soziale Dreigliederung wichtigen Fragen Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben, sowie Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Die Zeitschrift Humane Wirtschaft die zwar nicht zur Dreigliederungsbewegung aber zu den Kritikern des aktuellen Geld- und Wirtschaftssystems und in ihren vielen konstruktiven Beiträgen dazu zu den Wegbereitern für ein neues Wirtschaften gerechnet werden muss. Viele Beiträge von Helmut Creutz sind hier zu finden. Diese Zeitschrift hat die Freiheit des Geisteslebens so weit realisiert, dass sie in ihrem Archiv nach kurzer Zeit alle Beiträge der letzten Printausgabe zum kostenlosen Download bereithält. Klasse! Zur „Lohnfrage“ (wobei dieser Ausdruck immer im Sinne des unten weiter beschriebenen gemeint ist) ist auf den oben genannten Seiten zur sozialen Dreigliederung viel Material zu finden. Ich verweise hier vor allem auf einen Beitrag von Christoph Strawe, in dem dieser neben anderen Aspekten des Lohns (Trennung von Arbeit und Einkommen, Bedürfnis- oder Leistungslohn, Trennung von Arbeit und Einkommen, der Egoismus im Wirtschaften, das soziale Hauptgesetz, der richtige Preis, Stücklohn oder Zeitlohn, Spreizung der Lohnskala etc.) auch – wenn auch knapp – auf das Teilungsverhältnis eingeht. Auch Wilhelm Neurohr hatte die Frage dieses Teilungsverhältnisses kurz in seinem Beitrag zur Lohnproblematik bei Alnatura (Sozialimpulse 2/2010) angesprochen.

Mit Blick auf die Empfindungen gegenüber der Tatsache, dass der heutige Mensch (vom Arbeiter – früher meist als Proletarier bezeichnet – bis zum Angestellten etc.) seine Arbeitskraft wie eine Ware gegen Geld (Lohn) verkaufen muss, hatte Rudolf Steiner bereits in seinem Buch „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ darauf hingewiesen: “ … wie stark als einer der Grundimpulse der ganzen modernen proletarischen sozialen Bewegung in den Instinkten, in den unterbewussten Empfindungen des modernen Proletariats ein Abscheu davor lebt, dass er seine Arbeitskraft dem Arbeitgeber ebenso verkaufen muss, wie man auf dem Markte Waren verkauft, der Abscheu davor, dass auf dem Arbeitskräftemarkt nach Angebot und Nachfrage seine Arbeitskraft ihre Rolle spielt, wie die Ware auf dem Markte unter Angebot und Nachfrage … Im Altertum gab es Sklaven. Der ganze Mensch wurde wie eine Ware verkauft. Etwas weniger vom Menschen, aber doch eben ein Teil des Menschenwesens selber wurde in den Wirtschaftsprozess eingegliedert durch die Leibeigenschaft. Der Kapitalismus ist die Macht geworden, die noch einem Rest des Menschenwesens den Charakter der Ware aufdrückt: der Arbeitskraft“ (Hervorhebungen durch Kursivdruck Rudolf Steiner, Hervorhebungen durch Fettdruck IH).

Weiter beschreibt Rudolf Steiner dort die inneren Gründe für das beschriebene Herauslösen der menschlichen Arbeitskraft über ein Teilungsverhältnis des gemeinsam von Arbeitsleiter und Arbeitsleister Erwirtschafteten. Er schildert, warum man die menschliche Arbeitskraft aus dem Wirtschaftsprozess „herausreißen“ muss, und warum es (mit Blick auf die Lohnfrage) gar nichts hilft, der Wirtschaft selber eine andere Form zu geben (Hervorhebungen durch Kursivdruck Rudolf Steiner, Hervorhebungen durch Fettdruck IH):

„Man sieht, wie die moderne Wirtschaftsform in der neueren geschichtlichen Entwickelung der Menschheit heraufgezogen ist. Man sieht auch, dass diese Wirtschaftsform der menschlichen Arbeitskraft den Charakter der Ware aufgeprägt hat. Aber man sieht nicht, wie es im Wirtschaftsleben selbst liegt, dass alles ihm Eingegliederte zur Ware werden muss. In der Erzeugung und in dem zweckmäßigen Verbrauch von Waren besteht das Wirtschaftsleben. Man kann nicht die menschliche Arbeitskraft des Warencharakters entkleiden, wenn man nicht die Möglichkeit findet, sie aus dem Wirtschaftsprozess herauszureißen. Nicht darauf kann das Bestreben gerichtet sein, den Wirtschaftsprozess so umzugestalten, dass in ihm die menschliche Arbeitskraft zu ihrem Recht kommt (indem man zum Beispiel wie Alnatura für die Arbeitnehmer verschiedene innerbetriebliche Vergünstigungen einrichtet, wie der Alnatura Chef Götz Rehn in der taz zur Lohndebatte schilderte: „Wir haben eine Bieneninitiative. Wir haben Theatergruppen. Wir haben einen Chor. Wir haben die Yoga-Gruppe. Wir haben Winterseminare, … Das bedeutet ja alles eine Erhöhung des Gehalts. … Ich glaube, wir müssen uns da nichts vorwerfen lassen.“ Anmerkung IH), sondern darauf: Wie bringt man diese Arbeitskraft aus dem Wirtschaftsprozess heraus, um sie von sozialen Kräften bestimmen zu lassen, die ihr den Warencharakter nehmen? Der Proletarier ersehnt einen Zustand des Wirtschaftslebens, in dem seine Arbeitskraft ihre angemessenen Stellung einnimmt. Er ersehnt ihn deshalb, weil er nicht sieht, dass der Warencharakter seiner Arbeitskraft wesentlich von seinem völligen Eingespanntsein in den Wirtschaftsprozess herrührt. Dadurch, dass er seine Arbeitskraft diesem Prozess überliefern muss, geht er mit seinem ganzen Menschen in demselben auf. Der Wirtschaftsprozess strebt so lange durch seinen eigenen Charakter danach, die Arbeitskraft in der zweckmäßigsten Art zu verbrauchen, wie in ihm Waren verbraucht werden, so lange man die Regelung der Arbeitskraft in ihm liegen lässt. Wie hypnotisiert durch die Macht des modernen Wirtschaftslebens richtet man den Blick allein auf das, was in diesem wirken kann. Man wird durch diese Blickrichtung nie finden, wie Arbeitskraft nicht mehr Ware zu sein braucht. Denn eine andere Wirtschaftsform wird diese Arbeitskraft nur in einer andern Art zur Ware machen. Die Arbeitsfrage kann man nicht in ihrer wahren Gestalt zu einem Teile der sozialen Frage machen, solange man nicht sieht, dass im Wirtschaftsleben Warenerzeugung, Warenaustausch und Warenkonsumtion nach Gesetzen vor sich gehen, die durch Interessen bestimmt werden, deren Machtbereich nicht über die menschliche Arbeitskraft ausgedehnt werden soll.“

Schließlich beschreibt Rudolf Steiner das wirkliche Verhältnis (auf das es also ankommt, das zu beachten ist) zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit Blick auf deren aufgewendete Arbeit bei der Produktion einer Ware so (GA 23, alle Anmerkungen und Hervorhebungen IH):

„Innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsform hat sich diese Arbeit dem sozialen Organismus so eingegliedert, dass sie durch den Arbeitgeber wie eine Ware dem Arbeitnehmer abgekauft wird. Ein Tausch wird eingegangen zwischen Geld (als Repräsentant der Waren) und Arbeit. Aber ein solcher Tausch kann sich in Wirklichkeit gar nicht vollziehen. Er scheint sich nur zu vollziehen. In Wirklichkeit nimmt der Arbeitgeber von dem Arbeiter Waren entgegen, die nur entstehen können, wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft für die Entstehung hingibt. Aus dem Gegenwert dieser Waren erhält der Arbeiter einen Anteil (denn er ist an der Entstehung dieser Ware genauso beteiligt wie der organisierend tätige Arbeitgeber; niemals darf dieser „Anteil“ als Lohn – das heißt Bezahlung für die Ware Arbeit – bezeichnet werden, da es sich real eben um etwas völlig anderes handelt, nämlich um eine Teilung des von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam Erarbeiteten; Anmerkung IH), der Arbeitgeber den anderen. Die Produktion der Waren erfolgt durch das Zusammenwirken des Arbeitgebers und Arbeitnehmers. Das Produkt des gemeinsamen Wirkens geht erst in den Kreislauf des Wirtschaftslebens über. Zur Herstellung des Produktes ist ein Rechtsverhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer notwendig (welches in der heutigen Zeit eben noch darin besteht, dass der Arbeiter seine Arbeit wie eine Ware für Geld verkaufen muss; dieses nicht mehr zeitgemäße Rechtsverhältnis muss durch ein anderes, nämlich einen Anteil an dem Erlös der gemeinsam hergestellten Ware ersetzt werden; Anmerkung IH). Dieses kann aber durch die kapitalistische Wirtschaft in ein solches verwandelt werden, welches durch die wirtschaftliche Übermacht des Arbeitgebers über den Arbeiter bedingt ist. Im gesunden sozialen Organismus muss zutage treten, dass die Arbeit nicht bezahlt werden kann. Denn diese kann nicht im Vergleich mit einer Ware einen wirtschaftlichen Wert erhalten (und wenn sie das heute doch erhält, dann nur, weil die Menschen noch nicht bewusst einsehen können, dass der Verkauf von Arbeitskraft für Geld ein unmenschlicher Anachronismus ist, etwas, was überhaupt nicht mehr in die Zeit und das (Rechts-) Empfinden der Menschen passt; Anmerkung IH). Einen solchen hat erst die durch Arbeit hervorgebrachte Ware im Vergleich mit anderen Waren. Die Art, wie, und das Maß, in dem ein Mensch für den Bestand des sozialen Organismus zu arbeiten hat, müssen aus seiner Fähigkeit heraus und aus den Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins geregelt werden. Das kann nur geschehen, wenn diese Regelung von dem politischen Staate aus in Unabhängigkeit von den Verwaltungen des Wirtschaftslebens geschieht.“

Und im Band „Soziale Zukunft“ charakterisierte Rudolf Steiner den Lohn als solchen (also nicht die Höhe des Lohns) als etwas, was es eigentlich gar nicht mehr gibt (beziehungsweise geben sollte), da er nur noch durch einen Betrug der wirtschaftlich Stärkeren zustande kommt:

„Man denkt so stark im Sinne der heutigen Gesellschaftsordnung, der heutigen Ordnung, dass man in weitesten Kreisen überhaupt nicht gewahr wird, wie der Lohn als solcher ja in Wirklichkeit eine soziale Unwahrheit ist. In Wirklichkeit besteht das Verhältnis so, dass der sogenannte Lohnarbeiter zusammenarbeitet mit dem Leiter der Unternehmung, und was stattfindet, ist in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung – die nur kaschiert wird durch allerlei täuschende Verhältnisse, durch Machtverhältnisse meistens und so weiter – über die Verteilung des Erlöses. Wenn man paradox sprechen wollte, so könnte man sagen: Lohn gibt es ja gar nicht, sondern Verteilung des Erlöses gibt es – heute schon, nur dass in der Regel derjenige heute, der der wirtschaftlich Schwache ist, sich bei der Teilung übers Ohr gehauen findet. Das ist das ganze“ (Hervorhebungen IH).

Aufgrund dieser Zusammenhänge (das heißt in der geschichtlichen und geistigen Entwicklung der Menschheit, nicht als immer noch bestehendes soziales Problem) habe „das Lohnverhältnis überhaupt vollständig seine Bedeutung verloren.“ Daher „darf nicht mehr daran gedacht werden, die Arbeit als solche zu bezahlen. … Die Arbeit wird einem Rechtsverhältnis … unterstellt; …“

In GA 330 geht Rudolf Steiner auf die Aspekte eines richtig verstandenen Sozialismus ein:

„Ich habe in früheren Vorträgen bereits darauf hingewiesen, worin der Hauptpunkt liegt. Man könnte sagen, zwei Hauptpunkte des ganzen Sozialismus liegen in den zwei Forderungen, zu denen sich dann wie von selbst, als eine selbständige Konsequenz, eine dritte ergibt. Sie liegen erstens in der Forderung, dass künftighin das in die Produktionsmittel eingeflossene Kapital nicht mehr Besitz sein dürfte. Kapital wird des Besitzcharakters entkleidet. Zweitens, Arbeit darf in der Zukunft nicht mehr Ware sein, das heißt in der zukünftigen sozialistischen oder sozialen Gesellschaft, im gesunden sozialen Organismus wird das Lohnverhältnis aufhören. Arbeit oder Arbeitskraft darf fernerhin nicht Ware sein (die gegen Lohn verkauft werden muss; Anmerkung IH). Derjenige, der handarbeitet, produziert als Kompagnon mit dem geistigen Arbeiter in der Weise, wie es schon charakterisiert worden ist. Es besteht kein Arbeitsvertrag (der ja heute immer noch die Legitimation für das unwürdige Verhältnis eines Verkaufs der zu leistenden Ware Arbeitskraft gegen Lohn darstellt; Anmerkung IH), es besteht ein Vertrag lediglich über die Teilung der Leistungen. Das ist dasjenige, was nur erreicht werden kann, wenn der Arbeiter dem Arbeitsleiter als ein völlig freier Mensch gegenübersteht, das heißt wenn er imstande ist, auf einem ganz anderen Boden als dem der Wirtschaftsordnung Maß, Zeit, Art seiner Arbeitskraft festzulegen, wenn er frei verfügen kann über sich als ganzen Menschen, bevor er in ein Vertragsverhältnis eintritt. Ich weiß, dass die Zöpfe von heute (der Vortrag wurde im Jahr 1919 gehalten, die Bemerkung trifft heute aber sicher noch zu; Anmerkung IH) sich das Gesagte noch nicht vorstellen können als etwas Praktisches. Allein, man hat vor fünfzig Jahren sich manches nicht als praktisch vorstellen können, was in den fünfzig Jahren seither etwas Praktisches geworden ist. Der Arbeiter tritt in das Vertragsverhältnis als ein freier Mensch ein, der sagen kann: Weil ich auf einem von dem Wirtschaftsleben unabhängigen Boden den Charakter meiner Arbeitskraft feststellen kann, trete ich dir jetzt entgegen und arbeite so, wie meine Arbeitskraft geregelt ist, mit dir zusammen. Dasjenige, was wir erzeugen, unterliegt einem Teilungsvertrag mit dir!“ (Hervorhebungen und Anmerkungen IH)

Zur Realisierung dieses Teilungsvertrages müsste Alnatura jedoch seine Bilanzzahlen zum Gewinn veröffentlichen. Angaben zum Gewinn macht das Unternehmen jedoch gemäß dem Handelsblatt nicht. Und da Götz Rehn „auch heute noch Geschäftsführer und Alleingesellschafter ist,“ wie Alnatura mitteilt, gibt es auch keine Angaben über seinen persönlichen Verdienst. Das mag nun jeder Unternehmer halten, wie er will; aber ob es sich dabei um ein „anthroposophisches Unternehmertum“ im Sinne des Sozialgedankens Rudolf Steiners handelt, ist doch sehr zu bezweifeln.

Was für einen enormen Gewinn mit Blick auf die innerbetriebliche Offenheit und Transparenz würde die Umstellung von der bisherigen Entlohnung (Verkauf von Arbeitskraft als Ware) auf das von Rudolf Steiner vorgeschlagene Teilungsverhältnis bedeuten? Wieviel Positives könnte auf diese Weise von einem „anthroposophischen Unternehmertum“ für die menschlichen Verhältnisse aller Mitarbeiter untereinander und im Verhältnis zum Management der Firma getan werden? Wie positiv wäre es gewesen und was für eine enorme beispielhafte Signalwirkung auf das gesamte soziale Leben hätte es in diesen Zeiten weltweiter maßloser Raffgier der Manager gehabt, wenn statt eines sogenannten „anthroposophischen Unternehmertums“ wirklich konsequent am Sozialgedanken Rudolf Steiners orientierte Alnatura-Märkte mit einer beispielhaften Verteilung des gemeinsam von „Arbeitsleitern und Arbeitsleistern“ erwirtschafteten Erlöses existiert hätten. So ist wieder mal mit Blick auf das sogenannte „anthroposophische Unternehmertum“ viel Porzellan in der öffentlichen Meinungsbildung zerschlagen worden. Chancen für eine wirklich fruchtbare gesamtgesellschaftliche Vorbildfunktion und soziale Weiterentwicklung sind vertan worden, indem diese soziale Initialzündung in der Praxis gerade von den sogenannten „anthroposophischen Unternehmen“, die dieses hätten leisten können, nicht geleistet worden ist. Was für einen befreienden Impuls für die Öffentlichkeit hätte es bedeutet, wenn statt der schmerzenden Überschrift in der taz „Ein Ökokapitalist sahnt ab“, die von vielen Medien weitergegeben wurde (und zwar nicht nur auf der Mindestlohn-Seite des DGB sondern auch im FOCUS, der Welt, bis hin zum Greenpeace-Magazin vielleicht die Meldung gestanden hätte: „Revolutionäre Sozialreform: Alnatura löst Tariflohn durch Teilungsverhältnis ab“ oder: „Sozial-Tsunami: Teilungsverhältnis statt Lohn bei Alnatura erhöht betriebliche Produktivität und gesellschaftliche Akzeptanz … Verunsicherte Manager der deutschen Industrie bitten Alnatura-Gründer um Schulung.“