von Ingo Hagel
I may make you feel but I can’t make you think.
(Ian Anderson/Jethro Tull in Thick as a Brick, bei 0:22)
Der quirlige Ian Anderson hatte schon recht: Gefühle sind von außen anregbar. Sie entstehen passiv. Das wirkliche Denken entsteht jedoch niemals passiv oder von außen erzwungen, sondern muss immer von einem selber gewollt werden. Das könnte einen daher bei der Beantwortung der Frage, wie man denn nun zum reinen Denken kommt, zur Verzweiflung treiben. Denn über die Sinnesdinge dieser Welt kann ich nachdenken, sie sind ja da. Aber wie soll ich über etwas denken, das – wie das reine Denken – keinen sinnlichen Inhalt hat, und daher „nicht da ist“? Hier ist es nun ein Glück, dass man zwar nur selber denken kann, dass man sich aber auch an den reinen Gedanken eines anderen denkend und wollend entlanghangeln kann. Sie tragen und halten einen, aber natürlich nur, solange man den Denkwillen aufbringt, diese Gedanken nachzudenken und zu erleben. Und damit beantwortet sich – erstmal theoretisch – die Frage, wie man denn zum reinen Denken kommt: Natürlich zuerst durch das Denken der „Philosophie der Freiheit“ selber –
aber bitte zuerst den ersten Teil der „Wissenschaft der Freiheit“ durchnehmen, sonst führt einen der zweite nur auf Abwege –
die eben ganz im reinen Denken geschrieben ist. Man darf dieses Buch allerdings nicht so lesen, wie heute Bücher rein wegen der Information gelesen werden. Selbstverständlich ist diese auch wichtig, aber noch wichtiger ist die Gedankenarbeit, die man aufwenden muss, um dieses Buch zu verstehen. Man muss diese „Philosophie der Freiheit“ aktiv lesen und nicht so distanziert und passiv in sich aufnehmen, wie Bücher heute gelesen werden:
Rudolf Steiner: Ja, so lässt sich so etwas, wie es versucht worden ist darzustellen in der «Philosophie der Freiheit», nicht lesen. Da muss man sich immerfort einen Ruck geben, damit diese Gedanken einen nicht einschläfern. Denn darauf ist nicht gerechnet, dass man auf der Chaiselongue bloß sitzt. Man kann ja sitzen, selbstverständlich, kann sogar den Rücken zurücklehnen, aber man muss dann versuchen, aus dem ganzen Menschen, gerade dadurch, dass man die äußere Leiblichkeit in Ruhe gebracht hat, das innere geistig-seelische Wesen in Bewegung zu setzen, so dass das ganze Denken in Bewegung kommt. Anders geht es nicht vorwärts, sonst schläft man ein. Es schlafen auch viele dabei ein, und das sind nicht einmal die unehrlichsten.
….
Die unehrlichsten sind diejenigen, welche die «Philosophie der Freiheit» lesen wie ein anderes Buch und dann glauben, dass sie wirklich die Gedanken verfolgt haben. Sie haben sie nicht verfolgt, sondern sie haben sie nur so übersetzt wie Worthülsen; sie lesen nur so die Worte und nehmen nicht heraus, was eigentlich aus den Worten erst folgt, wie wenn man am Feuerstein den Stahl schlägt.
Liest man diese „Philosophie der Freiheit“ so wie eine Partitur, die der Musiker beim Spielen in jedem Moment aktiv in Musik umsetzen, das heißt immer wieder neu hervorbringen muss, dann ist man auf dem richtigen Weg:
Man muss gewissermaßen sich sagen können: Jetzt weiß ich durch diese seelische Gedankenarbeit, die ich verrichtet habe, was eigentlich reines Denken ist.
Wenn man dieses reine Denken ausführt, dann kann man sehr gut beobachten, dass dieses Denken – ganz im Gegensatz zu dem Denken, das sich auf die Wahrnehmungen der Sinneswelt stützt – ohne eine dauernde Willensanstrengung überhaupt nicht möglich ist. Reines Denken ist also nicht nur ein Denken sondern ebensogut Wille:
Rudolf Steiner: Von diesem reinen Denken kann man ebensogut sagen, und ich habe das in der Neuauflage meiner «Philosophie der Freiheit» deutlich durchmerken lassen, dass es im Bereiche des Wollens vor sich geht. Aber es ist das Wollen zum Denken ummetamorphosiert, wie man sagen kann. Es ist das Ergebnis desjenigen Denkens, das alle äußere Erfahrung abgestreift hat.
Gehen wir an ein Beispiel für das eben Gesagte. Ich entnehme es der natürlich „Philosophie der Freiheit“. Rudolf Steiner erklärt dort lapidar und erschöpfend:
Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewusste Erleben eines reinen geistigen Inhalts. Nur durch eine Intuition kann die Wesenheit des Denkens erfasst werden.
Nun ist unser Bewusstsein, das eine solche Formulierung wahrnimmt, naturgemäß erst einmal nur an sinnliche – und nicht an die sinnlichkeitsfreien Elemente des reinen Denkens – gewöhnt. Dieses gewöhnliche Bewusstsein, das ganz im Sinnlichen verläuft, verläuft passiv. Wir brauchen nichts zu tun, um den Inhalt der sinnlichen Welt in uns aufzunehmen. Bei dem oben angeführten Beispiel eines sinnlichkeitsfreien Denkens ist das völlig anders: Wenn man nicht permanent seinen Willen im Denken mobilisiert, dann sagen diese beiden Sätze einem nichts. Man muss seinen Willen in Bewegung setzen, um das oben Gesagte überhaupt im Bewusstsein halten geschweige denn, irgendetwas damit verbinden zu können. Wenn man das aber tut, wenn man versucht, sich vorzustellen, was denn das oben angeführte „rein Geistige“ sein könnte oder „ein rein geistiger Inhalt“, dann bewegt man sich bereits in dieser Denkbemühung schon im reinen Denken. Dieses gibt es eben nicht, ohne dass der Denkwille angestrengt wird.
Wirkliche innere Freiheit – und nicht bloß irgendwelche äußere Abwesenheit von den vielen täglichen Übeln unserer Zeit – wird nur erreicht werden können durch dieses innere Erlebnis des reinen Denkens. Dann kann – ausgehend von diesem neuen Inneren – natürlich auch ins Äußere gewirkt werden.
Dieses reine Denken verläuft rein in Bildern, das heißt so wie ein Bild eines Spiegels, vor dem wir stehen, uns zu nichts zwingen kann, so kann uns auch dieses reine Denken zu nichts zwingen. Das ist die Grundlage der Freiheit: Wir müssen den Inhalt dieser reinen Gedanken, dieser reinen Ideen, die keine Gewalt mehr auf den Menschen haben (wie zum Beispiel Gefühle) einsehen, dann können wir uns ihnen in Freiheit zuwenden:
Als die Menschen noch nicht in Abstraktionen denken konnten, waren sie mit ihrer ganzen Seelenverfassung determiniert, abhängig. Frei können sich erst die Menschen entwickeln, nachdem sie innerlich durch nichts bestimmt sind, nachdem die moralischen Impulse – Sie können das nachlesen in meiner «Philosophie der Freiheit» – im reinen Denken erfasst werden können. Reine Gedanken sind aber keine Realität, sondern sie sind Bilder. Bilder können uns nicht zwingen, wir selber müssen unser Handeln bestimmen; Bilder haben nichts Zwingendes.
Solange Impulse des Handelns nicht wirklich im reinen Denken erfasst werden, kann man nie wissen, inwiefern es die eigenen Triebe und Leidenschaften sind, die den Menschen zum Handeln zwingen:
Rudolf Steiner: Wenn daher der Mensch seine moralischen Impulse in reinen Gedanken ergreift, so muss er sie als ein freies Wesen befolgen. Keine Emotion, keine Leidenschaft, kein innerlich körperlicher Vorgang kann ihn veranlassen, jenen moralischen Impulsen zu folgen, die er in reinen Gedanken zu erfassen in der Lage ist.
Hat man allerdings dieses reine Denken erreicht, dann ist nicht nur eine neue Ausgangsbasis für die Ideenbildung geschaffen, sondern auch ein völlig neuer Boden für das Handeln, für den Willen.
Rudolf Steiner: Woher weiß denn der Mensch sonst, dass er einen Willen hat? Er «hat» ihn ja nicht! Denn er ist hingegeben an Instinkte, die mit seiner organischen Entwickelung zusammenhängen. Er träumt oftmals, dass er dies oder jenes aus einem seelischen Antrieb heraus tut. Er tut es jedoch, weil sein Magen gut oder schlecht gestimmt ist. Jetzt aber wissen Sie, dass Sie den physischen Organismus mit demjenigen durchdrungen haben, was ihn auch mit Bewusstsein ausfüllt. Dazu brauchen Sie kein Hellseher zu werden. Sie brauchen lediglich mit innerem Anteil die «Philosophie der Freiheit» auf sich wirken zu lassen.
Freiheit und das Handeln aus Freiheit ist also letzten Endes nur zu erreichen über das reine Denken. Denn mit Blick auf die Freiheitsfrage ist es wichtig, dass der Mensch ein Bewusstsein von dem erhält, was wirklich in seinem Willen – und nicht in dem, was dieser Wille außen in der Welt wahrnehmbar vollbringt – eigentlich vor sich geht. Aber das ist nicht so einfach – und auch wiederum nur über das reine Denken erreichbar.
Und neben dem oben Angeführten, dass das reine Denken den Menschen in die Lage versetzt, seine Egoismen (Triebe, Leidenschaften und so weiter) zu überwinden und seinen Willen zu ergreifen, versetzt erst dieses reine Denken den Menschen in die Lage, aus seinem wirklichen Ich heraus zu handeln. Das, was der Mensch heute „Ich“ nennt, das ist ja gar nicht sein wirkliches Ich. Deswegen schreibt Rudolf Steiner dieses „Ich“ in der „Philosophie der Freiheit“ an den betreffenden Stellen in Anführungszeichen. Der Schöpfer des wirklichen Ich ist das reine Denken (siehe dazu Rudolf Steiners Vortrag vom 17. August 1908, Nr. 35 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe).
Das heißt aber, sollte der Mensch darauf beharren, mit diesem reinen Denken weiterhin nichts zu tun haben zu wollen, dann wird er nicht nur nicht zu seinem wirklichen Ich kommen, sondern er wird schließlich auch dieses kleine „Ich“ verlieren, mit dem er bis jetzt „originär intuitiv“ (Herbert Ludwig) alle die schönen humanistischen Sachen dieser Welt geschaffen hat. Die eigene menschliche Wesenheit wird in der heutigen modernen Zeit einer im im weitesten Sinne zu realisierenden Bewusstwerdung nur im reinen Denken ergriffen:
Was uns heute obliegt, ist, aus dem gegenwärtigen Entwicklungsstandpunkt der Menschheit gerade dasjenige hervorzuholen, was zum Freiheitsbewusstsein führt: das Ergreifen der menschlichen Wesenheit im reinen Denken.
Anmerkung: Ich polarisiere etwas zum besseren Verständnis des Ernstes der Angelegenheit, der zur Einsicht führen muss, dieses alte „originär intuitive“ Erkennen im Sinne der „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners neu zu fassen. Ich habe nichts gegen den Humanismus einer alten Zeit, ich bewundere ihn – ganz abgesehen davon, dass mich immer stärker eine Ahnung beschleicht, dass kaum ein Mensch bis heute die kleineren und vor allem die größeren Gipfel dieses Humanismus verstanden hat. Dieser Humanismus alten Schlages ist am Ende – die wenigen Ohren, die ihn einstmals etwas verstanden haben, sind heute ganz taub geworden. Was dieser alte Humanismus einst erarbeitet hat, wird erst wieder neu entdeckt und verstanden werden müssen. Aber das geht nur mit und nicht ohne das reine Denken der „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners.
Freiheit besteht also nicht darin, irgendetwas –
wovon es in den letzten über 2400 Jahren seit Plato, Aristoteles und dem „Tempel von Delphi“, den Ludwig erwähnt, haufenweise gegeben hat – jedoch immer mehr unter Zuhilfenahme des menschlichen physischen Leibes –
im alten Sinne „originär intuitiv“ zu erfassen, sondern in der Realisierung des wirklichen Ich. Dieses wirkliche Ich ist allerdings eine leibfreie Angelegenheit. Und das reine Denken der „Philosophie der Freiheit“ ist der rettende Knüppelpfad durch einen bodenlosen Sumpf, der sich dem Menschen eröffnet, wenn dieser glaubt –
zum Beispiel als Anhänger einer der verschiedenen esoterischen Bewegungen, die um eine solide denkerische Arbeit einen weiten Bogen machen, oder als Anthroposoph, der die ernsthafte ideelle Arbeit der Anthroposophie scheut und Anthroposophie lieber mit Ausschaltung der Ideenwelt sozusagen wie eine Art Gemütstrost in sich aufnimmt –
er könne doch viel einfacher und ohne dieses lästige reine Denken in die geistige Welt kommen. Zu einer soliden Erarbeitung dieses reinen Denkens ist das erkenntnistheoretische „Frühwerk“ (ein eigentlich unmöglicher Ausdruck angesichts der Reife und Tiefe dieses Werkes) Steiners unabdingbar. Aber das halten viele „Anthroposophen“ für überhaupt nicht anthroposophisch sondern nur für philosophisch, was soviel heißt wie: Es braucht sie nichts angehen.
Teil 1) Warum nehmen so viele Menschen die Unfreiheit hin? – Wie lässt sich Freiheit wirklich begründen?
Teil 2) Die Triebfedern einer Handlung
Teil 3) Die Motive einer Handlung
Teil 7) Aber was ist und wie komme ich denn nun zum reinen Denken?
Teil 8) Eine weitere Möglichkeit, um dieses reine Denken zu üben
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