Rudolf Steiner: Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben

 

Aus Nr. 3 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 4:

Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben. Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zu seiner Überwindung sein. Frevelhaft wäre es, die unsterblichen Verdienste dieses Mannes um die Entwicklung der deutschen Wissenschaft herabwürdigen zu wollen. Aber wir müssen endlich einsehen, dass wir nur dann den Grund zu einer wahrhaft befriedigenden Welt- und Lebensanschauung legen können, wenn wir uns in entschiedenen Gegensatz zu diesem Geiste stellen. Was hat Kant geleistet? Er hat gezeigt, dass der jenseits unserer Sinnen- und Vernunftwelt liegende Urgrund der Dinge, den seine Vorgänger mit Hilfe falsch verstandener Begriffsschablonen suchten, für unser Erkenntnisvermögen unzugänglich ist. Daraus hat er gefolgert, dass unser wissenschaftliches Bestreben sich innerhalb des erfahrungsmäßig Erreichbaren halten müsse und an die Erkenntnis des übersinnlichen Urgrundes, des «Dinges an sich», nicht herankommen könne. Wie aber, wenn dieses «Ding an sich» samt dem jenseitigen Urgrund der Dinge nur ein Phantom wäre! Leicht ist einzusehen, dass sich die Sache so verhält. Nach dem tiefsten Wesen der Dinge, nach den Urprinzipien derselben zu forschen, ist ein von der Menschennatur untrennbarer Trieb. Er liegt allem wissenschaftlichen Treiben zugrunde. 

Nicht die geringste Veranlassung aber ist, diesen Urgrund außerhalb der uns gegebenen sinnlichen und geistigen Welt zu suchen, solange nicht ein allseitiges Durchforschen dieser Welt ergibt, dass sich innerhalb derselben Elemente finden, die deutlich auf einen Einfluss von außen hinweisen. 

Unsere Schrift sucht nun den Beweis zu führen, dass für unser Denken alles erreichbar ist, was zur Erklärung und Ergründung der Welt herbeigezogen werden muss. Die Annahme von außerhalb unserer Welt liegenden Prinzipien derselben zeigt sich als das Vorurteil einer abgestorbenen, in eitlem Dogmenwahn lebenden Philosophie. Zu diesem Ergebnisse hätte Kant kommen müssen, wenn er wirklich untersucht hätte, wozu unser Denken veranlagt ist. Statt dessen bewies er in der umständlichsten Art, dass wir zu den letzten Prinzipien, die jenseits unserer Erfahrung liegen, wegen der Einrichtung unseres Erkenntnisvermögens nicht gelangen können. Vernünftigerweise dürfen wir sie aber gar nicht in ein solches Jenseits verlegen. Kant hat wohl die «dogmatische» Philosophie widerlegt, aber er hat nichts an deren Stelle gesetzt. Die zeitlich an ihn anknüpfende deutsche Philosophie entwickelte sich daher überall im Gegensatz zu Kant. Fichte, Schelling, Hegel kümmerten sich nicht weiter um die von ihrem Vorgänger abgesteckten Grenzen unseres Erkennens und suchten die Urprinzipien der Dinge innerhalb des Diesseits der menschlichen Vernunft. Selbst Schopenhauer, der doch behauptet, die Resultate der Kantischen Vernunftkritik seien ewig unumstößliche Wahrheiten, kann nicht umhin, von denen seines Meisters abweichende Wege zur Erkenntnis der letzten Weltursachen einzuschlagen. Das Verhängnis dieser Denker war, dass sie Erkenntnisse der höchsten Wahrheiten suchten, ohne für solches Beginnen durch eine Untersuchung der Natur des Erkennens selbst den Grund gelegt zu haben. 

Die stolzen Gedankengebäude Fichtes, Schellings und Hegels stehen daher ohne Fundament da. Der Mangel eines solchen wirkte aber auch schädigend auf die Gedankengänge der Philosophen. Ohne Kenntnis der Bedeutung der reinen Ideenwelt und ihrer Beziehung zum Gebiet der Sinneswahrnehmung bauten dieselben Irrtum auf Irrtum, Einseitigkeit auf Einseitigkeit. Kein Wunder, dass die allzukühnen Systeme den Stürmen einer philosophiefeindlichen Zeit nicht zu trotzen vermochten, und viel Gutes, das sie enthielten, mit dem Schlechten erbarmungslos hinweggeweht worden ist. 

Einem hiermit angedeuteten Mangel sollen die folgenden Untersuchungen abhelfen. Nicht wie Kant es tat, wollen sie darlegen, was das Erkenntnisvermögen nicht vermag;; sondern ihr Zweck ist, zu zeigen, was es wirklich imstande ist.

 

 

 

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