Rudolf Steiner: Die Anschauungsart Goethes und des Goetheanums bejaht im vollen Sinne den gegenwärtigen Gesichtspunkt der naturwissenschaftlichen Forschung

 

von Rudolf Steiner

 

Aus Nr. 25 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (1. Kapitel) – (Hervorhebungen IH):

 

Es ist mir zur großen Befriedigung, diesen Vortragszyklus im Goetheanum abhalten zu können. Diese Institution soll der Pflege der spirituellen Wissenschaft dienen. Was hier spirituelle Wissenschaft genannt wird, sollte nicht verwechselt werden mit dem, was oftmals gerade in der Gegenwart als Okkultismus, Mystik usw. auftritt. Diese Bestrebungen lehnen sich entweder an alte, nicht mehr richtig verstandene spirituelle Traditionen an und geben in laienhafter Weise allerlei vermeintliche Erkenntnisse über übersinnliche Welten; oder sie ahmen in äußerlicher Weise die gewohnten wissenschaftlichen Methoden nach, ohne Kenntnis davon, dass Forschungswege, die musterhaft ausgebildet sind für die Betrachtung der Sinnenwelt, niemals in die übersinnlichen Welten führen können. Und was an Mystik auftritt, ist entweder auch bloße Erneuerung alter Seelenerlebnisse, oder unklare, oft sehr phantastische und illusionäre Selbstbetrachtung.

Demgegenüber stellt sich die Anschauungsart des Goetheanums als eine solche, die im vollen Sinne den gegenwärtigen Gesichtspunkt der naturwissenschaftlichen Forschung bejaht und da anerkennt, wo er berechtigt ist. Dagegen strebt sie durch die streng geregelte Ausbildung des rein seelischen Anschauens, über die übersinnliche Welt objektive, exakte Ergebnisse zu gewinnen. Sie lässt als solche Ergebnisse nur das gelten, was durch ein solches Anschauen der Seele gewonnen ist, bei der die seelisch-geistige Organisation ebenso exakt überschaubar ist wie ein mathematisches Problem. Es kommt darauf an, dass zunächst diese Organisation in wissenschaftlich einwandfreier Anschauung dasteht. Nennt man diese Organisation «Geistesauge», so muss man sagen: wie der Mathematiker seine Probleme vor sich hat, so der Geistesforscher sein eigenes «Geistesauge». Für ihn wird also die wissenschaftliche Methode zuerst auf jene Vorbereitung gelenkt, die in seinen «Geist-Organen» liegt. Waltet in diesen Organen «seine Wissenschaft», so kann er sich dann derselben bedienen, und die übersinnliche Welt liegt vor ihm. Der Forscher der Sinneswelt lenkt seine Wissenschaft nach außen, nach den Ergebnissen. Der Forscher des Geistes betreibt Wissenschaft als Vorbereitung des Schauens. Beginnt das Schauen, dann muss die Wissenschaft bereits ihren vollen Beruf erfüllt haben. Will man dann sein «Schauen» Hellsehen nennen, so ist es «exaktes Hellsehen». Wo die Wissenschaft des Sinnlichen endet, da beginnt diejenige des Geistes. Der Geistesforscher muss vor allem seine ganze Denkweise an der neueren Wissenschaft vom Sinnlichen herangebildet haben.

Daher ist es, dass die heute getriebenen Wissenschaften in das Gebiet einmünden, das die spirituelle Wissenschaft im modernen Sinne eröffnet. Das geschieht nicht nur für die einzelnen Gebiete der Naturwissenschaft und der Geschichte. Das geschieht auch zum Beispiel für die Medizin. Und es geschieht für alle Gebiete des praktischen Lebens, für die Kunst, die Moral und für das soziale Leben. Es geschieht auch für die religiösen Erfahrungen.

In diesen Vorträgen sollen drei dieser Gebiete behandelt und von ihnen gezeigt werden, wie sie in die moderne spirituelle Anschauung einmünden: Philosophie, Kosmologie und Religion.