Rudolf Steiner: Die Äußerungen und Leistungen der Seele des Menschen sind nicht Ergebnis des Leibes – Sie werden von diesem nur gespiegelt

 

von Rudolf Steiner

 

Doch muss zu der Einsicht, dass in der Sinneswelt Geist ist, der nicht durch die naturwissenschaftliche Vorstellungsart zu ergreifen ist, noch eine andere hinzukommen. Diejenige nämlich, dass die neuere Naturwissenschaft die Abhängigkeit des gewöhnlichen, in der Sinneswelt verlaufenden menschlichen Seelenlebens von den Werkzeugen des Leibes entweder schon gezeigt hat oder auf dem Wege ist, sie zu zeigen. – Man betritt da ein Gebiet, auf dem man, wie mit ganz selbstverständlichen Einwänden, scheinbar vernichtend widerlegt werden kann, wenn man sich zu dem Dasein einer selbständigen geistigen Welt bekennt. Denn was könnte einleuchtender sein, als dass das Seelenleben des Menschen sich von Kindheit auf so entfaltet, wie sich die physischen Organe heranbilden, dass es verfällt in dem Maße, in dem die Organe altern. Was ist einleuchtender, als dass die Lähmung gewisser Gehirnpartien auch den Wegfall gewisser geistiger Fähigkeiten bedingt. Was scheint also einleuchtender zu sein, als dass alles Seelisch-Geistige an die Materie gebunden sei und ohne dieselbe keinen Bestand haben kann, wenigstens keinen solchen, von dem der Mensch wissen könne. Man braucht nicht einmal die glänzenden Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft zu Rate zu ziehen; das Selbstverständliche dieser Behauptung hat schon in genügend richtiger Art de Lamettrie 1746 in «Der Mensch, eine Maschine» (L’homme machine) ausgesprochen. Dieser französische Denker sagt: «Wenn es einem Schwachsinnigen, wie man gewöhnlich beobachten kann, nicht an Gehirn fehlt, so wird die schlechte Beschaffenheit dieses Eingeweides, z. B. seine zu große Weichheit, daran schuld sein. Dasselbe gilt von Narren; die Fehler ihres Gehirns bleiben unseren Nachforschungen nicht immer verborgen; wenn aber die Ursachen des Schwachsinns und der Narrheit und so weiter nicht immer erkennbar sind, wo soll man da die Ursachen der Verschiedenheit aller Geister suchen? Sie würden Luchs- und Argusaugen entgehen. Ein Nichts, eine kleine Faser, ein Ding, das auch die feinste Anatomie nicht entdecken kann, würde aus Erasmus und Fontanelle zwei Toren gemacht haben, eine Bemerkung, die letzterer selbst in einem seiner besten Dialoge macht» (Vgl. Max Brahn: de Lamettrie «Der Mensch, eine Maschine»). Nun, der Bekenner einer geistgemäßen Weltanschauung würde wenig Einsicht verraten, wenn er das Schlagende, das Selbstverständliche einer solchen Behauptung nicht zugäbe. Er kann sogar diese Behauptung noch verschärfen und sagen: Hätte die Welt jemals bekommen, was der Geist des Erasmus bewirkt hat, wenn seinen Leib irgend jemand erschlagen hätte, da Erasmus noch ein Knabe war? — Wenn eine geistgemäße Weltanschauung darauf angewiesen wäre, solch selbstverständliche Tatsachen nicht anzuerkennen oder ihre Bedeutung auch nur abzuschwächen, so wäre es schlecht um sie bestellt. Aber es kann eine solche Weltanschauung in Gründen wurzeln, die ihr von keinem materialistischen Einwand entzogen werden können.

Zunächst ist das seelische Erleben des Menschen, wie es sich im Denken, Fühlen und Wollen offenbart, an die leiblichen Werkzeuge gebunden. Und es gestaltet sich so, wie es durch diese Werkzeuge bedingt ist. Wer aber meint, er sehe das wirkliche Seelenleben, wenn er die Äußerungen der Seele durch den Leib beobachtet, der ist in demselben Fehler befangen wie einer, der glaubt, seine Gestalt werde von dem Spiegel hervorgebracht, vor dem er steht, weil der Spiegel die notwendigen Bedingungen enthalte, durch die sein Bild erscheint. Dieses Bild ist sogar in gewissen Grenzen als Bild von der Form des Spiegels und so weiter abhängig; was es aber darstellt, das hat mit dem Spiegel nichts zu tun. Das menschliche Seelenleben muss, um innerhalb der Sinneswelt sein Wesen voll zu erfüllen, ein Bild seines Wesens haben. Dieses Bild muss es im Bewusstsein haben, sonst würde es zwar ein Dasein haben, aber von diesem Dasein keine Vorstellung, kein Wissen. Dieses Bild, das im gewöhnlichen Bewusstsein der Seele lebt, ist nun völlig bedingt durch die leiblichen Werkzeuge. Ohne diese würde es nicht da sein, wie das Spiegelbild nicht ohne den Spiegel. Was aber durch dieses Bild erscheint, das Seelische selbst, ist seinem Wesen nach von den Leibeswerkzeugen nicht abhängiger als der vor dem Spiegel stehende Beschauer von dem Spiegel. Nicht die Seele ist von den Leibeswerkzeugen abhängig, sondern allein das gewöhnliche Bewusstsein der Seele. Die materialistische Ansicht von der menschlichen Seele verfällt einer Täuschung, die dadurch bewirkt wird, dass das gewöhnliche Bewusstsein, das nur durch die Leibeswerkzeuge da ist, mit der Seele selbst verwechselt wird. Das Wesen der Seele fließt so wenig in dieses gewöhnliche Bewusstsein hinein, wie mein Wesen in ein Spiegelbild hineinfließt. Dieses Wesen der Seele kann also auch nicht in dem gewöhnlichen Bewusstsein gefunden werden; es muss außerhalb dieses Bewusstseins erlebt werden. Und es kann erlebt werden, denn der Mensch kann noch ein anderes Bewusstsein in sich entwickeln als dasjenige, das durch die Leibeswerkzeuge bedingt ist.

Der aus der Weltanschauung des deutschen Idealismus hervorgegangene Denker Eduard von Hartmann hat nun klar erkannt, dass das gewöhnliche Bewusstsein ein Ergebnis der Leibeswerkzeuge ist und dass die Seele selbst in diesem Bewusstsein nicht enthalten ist. Er hat aber nicht erkannt, dass die Seele ein anderes von den Leibeswerkzeugen unabhängiges Bewusstsein entwickeln kann, durch das sie sich selbst erlebt. Daher meinte er, dieses Seelenwesen läge in einem Unbewussten, über das man sich nur Vorstellungen machen könne, wenn man von dem gewöhnlichen Bewusstsein aus Schlüsse auf ein eigentlich unbekannt bleibendes «Ding an sich» der Seele ziehe. Aber damit ist Hartmann, wie mancher seiner Vorgänger, auch vor der Schwelle stehen geblieben, die überschritten werden muss, wenn eine Erkenntnis der geistigen Welt mit einer sicheren Grundlage erreicht werden soll. Man kommt eben nicht über diese Schwelle, wenn man davor zurückschreckt, den Seelenkräften eine ganz andere Richtung zu geben, als sie unter dem Einfluss des gewöhnlichen Bewusstseins haben. Die Seele erlebt ihr eigenes Wesen innerhalb dieses Bewusstseins nur in den Bildern, die ihr von den Leibeswerkzeugen erzeugt werden. Könnte sie nur so erleben, so wäre sie in einer Lage, die sich vergleichen ließe mit der eines Wesens, das vor einem Spiegel steht und nur sein Bild sehen, von sich selbst aber nichts erleben kann. In dem Augenblicke aber, in dem dieses Wesen sich selber lebendig offenbar würde, träte es in ein ganz anderes Verhältnis zum Spiegelbilde als sein voriges war. – Wer sich nicht entschließen kann, in seinem Seelenleben etwas anderes zu entdecken, als ihm durch das gewöhnliche Bewusstsein geboten wird, der wird entweder in Abrede stellen, dass das Wesen der Seele erkennbar ist, oder er wird geradezu erklären, dieses Wesen sei vom Leibe erzeugt. – Man steht hier vor einer anderen Schranke, welche die naturwissenschaftliche Vorstellungsart aus ihren durchaus berechtigten Forderungen heraus aufrichten muss. Die erste ergab sich dadurch, dass diese Forderungen das Bild einer Welt zeichnen müssen, die niemals durch eine Wahrnehmung in ein Bewusstsein eintreten könnte. Die zweite entsteht, weil das naturwissenschaftliche Denken mit Recht von den Erlebnissen des gewöhnlichen Bewusstseins behaupten muss, dass sie durch die Leibeswerkzeuge zustande kommen, also in Wirklichkeit nichts von einer Seele enthalten. Es ist durchaus begreiflich, dass sich das neuere Denken zwischen diese zwei Schranken gestellt fühlt und aus wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit heraus an der Möglichkeit zweifelt, zu einer Erkenntnis der wirklichen geistigen Welt zu kommen, die weder durch das Bild einer «stummen und finsteren» Natur noch durch die vom Leibe abhängigen Erscheinungen des gewöhnlichen Bewusstseins erreicht werden kann. Und wer nur aus einem dunklen Gefühle heraus oder aus verschwommenem Mystizismus für sich von dem Dasein einer geistigen Welt glaubt überzeugt sein zu können, der sollte eher die schwierige Lage des neueren Denkers kennenlernen, als über die «rohen, plumpen» Vorstellungen der Naturwissenschaft wettern.

Über dasjenige, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart geben kann, kommt man nur hinaus, wenn man im inneren Seelenleben die Erfahrung macht, dass es ein Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein gibt; ein Erwachen zu einer Art und Richtung des seelischen Erlebens, die sich zu der Welt des gewöhnlichen Bewusstseins verhalten, wie dieses zu der Bilderwelt des Traumes. Goethe spricht in seiner Art von dem Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein und nennt die Seelenfähigkeit, die dadurch erlangt wird, «anschauende Urteilskraft». Diese anschauende Urteilskraft verleiht der Seele, nach Goethes Ansicht, die Fähigkeit, das zu schauen, was sich als die höhere Wirklichkeit der Dinge dem Erkennen des gewöhnlichen Bewusstseins verbirgt. Goethe hatte sich mit dem Bekenntnis zu einer solchen Fähigkeit des Menschen in Gegensatz gestellt zu Kant, der dem Menschen eine «anschauende Urteilskraft» abgesprochen hat. Goethe aber wusste aus der Erfahrung des eigenen Seelenlebens heraus, dass ein Erwachen des gewöhnlichen Bewusstseins zu einem solchen mit anschauender Urteilskraft möglich ist. …..

 

Aus Nr. 20 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Kapitel „Ausblicke“