von Rudolf Steiner
Nun, das soziale Hauptgesetz, welches durch den Okkultismus aufgewiesen wird, ist das folgende:
«Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.»
Anmerkung (IH): Heute stellen sich die Menschen – wenn überhaupt – unter Okkultismus etwas Mystisch-Unwissenschaftliches oder sogar Gefährliches vor. Das kann es natürlich sein, genauso wie ein Auto dies ist, wenn es in die Hände eines Menschen gerät, der meint, auf der Autobahn als Geisterfahrer auf der falschen Spur fahren zu müssen. Ansonsten stellt Okkultismus einfach etwas dar, was sich ergibt, wenn der naturwissenschaftliche Ansatz zur Bildung einer Weltanschauung konsequent zu Ende gedacht wird (s. zum Beispiel hier oder hier) – und ist in der Lage, in Angelegenheiten heilsam einzugreifen, in die die Gedankenart der modernen Naturwissenschaft, so berechtigt diese auf ihrem Gebiet ist, nur immer weiter zerstörend wirken wird – zum Beispiel auf dem Gebiet der sozialen Fragen.
Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen. – Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in Bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt. Man darf aber nicht denken, dass es genüge, wenn man dieses Gesetz als ein allgemeines moralisches gelten lässt oder es etwa in die Gesinnung umsetzen wollte, dass ein jeder im Dienste seiner Mitmenschen arbeite. Nein, in der Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, dass niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann, sondern doch diese möglichst ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen. Er selbst muss dafür wiederum durch die Arbeit seiner Mitmenschen erhalten werden. Worauf es also ankommt, das ist, dass für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.
Diejenigen, welche sich einbilden, «praktische Menschen» zu sein, werden – darüber gibt sich der Okkultist keiner Täuschung hin – über diesen «haarsträubenden Idealismus» nur ein Lächeln haben. Und dennoch ist das obige Gesetz praktischer als nur irgendein anderes, das jemals von «Praktikern» ausgedacht oder in die Wirklichkeit eingeführt worden ist. Wer nämlich das Leben wirklich untersucht, der kann finden, dass eine jede Menschengemeinschaft, die irgendwo existiert, oder die nur jemals existiert hat, zweierlei Einrichtungen hat. Der eine dieser beiden Teile entspricht diesem Gesetze, der andere widerspricht ihm. So muss es nämlich überall kommen, ganz gleichgültig, ob die Menschen wollen oder nicht. Jede Gesamtheit zerfiele nämlich sofort, wenn nicht die Arbeit der einzelnen dem Ganzen zufließen würde. Aber der menschliche Egoismus hat auch von jeher dieses Gesetz durchkreuzt. Er hat für den einzelnen möglichst viel aus seiner Arbeit herauszuschlagen gesucht. Und nur dasjenige, was auf diese Art aus dem Egoismus hervorgegangen ist, hat von jeher Not, Armut und Elend zur Folge gehabt. Das heißt aber doch nichts anderes, als dass immer derjenige Teil der menschlichen Einrichtungen sich als unpraktisch erweisen muss, der von den «Praktikern» auf die Art zustande gebracht wird, dass dabei entweder mit dem eigenen oder dem fremden Egoismus gerechnet wird.
Nun kann es sich aber natürlich nicht bloß darum handeln, dass man ein solches Gesetz einsieht, sondern die wirkliche Praxis beginnt mit der Frage: wie kann man es in die Wirklichkeit umsetzen? Es ist klar, dass dieses Gesetz nichts Geringeres besagt als dieses: Die Menschenwohlfahrt ist um so größer, je geringer der Egoismus ist. Man ist also bei der Umsetzung in die Wirklichkeit darauf angewiesen, dass man es mit Menschen zu tun habe, die den Weg aus dem Egoismus herausfinden. Das ist aber praktisch ganz unmöglich, wenn das Maß von Wohl und Wehe des einzelnen sich nach seiner Arbeit bestimmt. Wer für sich arbeitet, muss allmählich dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für die anderen arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden.
Dazu ist aber eine Voraussetzung notwendig. Wenn ein Mensch für einen anderen arbeitet, dann muss er in diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden; und wenn jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muss er den Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden und fühlen. Das kann er nur dann, wenn die Gesamtheit noch etwas ganz anderes ist als eine mehr oder weniger unbestimmte Summe von einzelnen Menschen. Sie muss von einem wirklichen Geiste erfüllt sein, an dem ein jeder Anteil nimmt. Sie muss so sein, dass ein jeder sich sagt: sie ist richtig, und ich will, dass sie so ist. Die Gesamtheit muss eine geistige Mission haben; und jeder einzelne muss beitragen wollen, dass diese Mission erfüllt werde. All die unbestimmten, abstrakten Fortschrittsideen, von denen man gewöhnlich redet, können eine solche Mission nicht darstellen. Wenn nur sie herrschen, so wird ein einzelner da, oder eine Gruppe dort arbeiten, ohne dass diese übersehen, wozu sonst ihre Arbeit etwas nütze ist, als dass sie und die Ihrigen, oder etwa noch die Interessen, an denen gerade sie hängen, dabei ihre Rechnung finden. – Bis in den einzelsten herunter muss dieser Geist der Gesamtheit lebendig sein.
Aus Nr. 34 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite: 213ff