Rudolf Steiner zur Herkunft der moralischen Impulse


 

von Rudolf Steiner

 

 

Es könnte zunächst scheinen und scheint es vielen Menschen auch so, als ob dasjenige, was man im wahren Sinne des Wortes hellsichtige Kräfte nennt, durch welche die Wesenheiten und Vorgänge der geistigen Welten erkannt werden können, als ob der Mensch diese hellsichtigen Kräfte im Alltagsleben gar nicht hätte, beziehungsweise im Alltagsleben gar nichts von diesen Kräften in seiner Seele entwickelte. So ist es aber nicht. Die hellsichtigen Kräfte sind nicht solche Kräfte, die dem Menschen, so wie er im Alltagsleben darinnen lebt, ganz unbekannt, ganz fremd wären. Das ist nicht der Fall, sondern dasjenige, was wir entwickeln, um in die geistigen Welten hineinzuschauen, was wir aus den tiefen Untergründen der Seele hervorholen müssen, um den Weg in die geistigen Welten hinein zu finden, das ist in einer bestimmten Seelentätigkeit auch schon für das gewöhnliche Leben des Menschen vorhanden. Das ist vorhanden in dem, was man die moralischen Impulse des Menschen nennt. Eine wirklich moralische Tat, ein wirklich moralischer Impuls geht aus denselben Fähigkeiten der Seele hervor, die durch entsprechende Ausbildung zu den hellsichtigen Fähigkeiten führen. Für das gewöhnliche Leben steht die Sache allerdings so, dass alles, was der Mensch tut, aus dem kommen kann, was in seiner Leiblichkeit liegt oder was er sich für und durch seine Leiblichkeit im Laufe des Lebens angeeignet hat. Wenn der Mensch Begierden entwickelt, wenn der Mensch dieses oder jenes tut, wozu er bestimmt wird durch seine Erziehung oder seine sonstigen Lebensverhältnisse, dann ist es das Leibliche, aus dem der Impuls dazu kommt. Aber es gibt im Menschenleben wirklich Impulse, die nicht aus dem Leiblichen kommen, bei denen wirklich nur die Seele betätigt ist, wenn der Mensch diese Impulse fasst: das sind die moralischen Impulse. Eine wirklich moralische Tat ist diejenige, zu der der Leib zwar zu Hilfe gerufen wird, damit man eine Vorstellung von der moralischen Tat bekommt, aber der Impuls, der Antrieb zu der moralischen Tat liegt im Geistig-Seelischen, das wirklich unabhängig vom Leiblichen ist. Man wird niemals mit bloßer Philosophie eine Definition des Moralischen geben können, und es ist das Charakteristische gerade der Philosophie, sofern sie Moralphilosophie sein will, dass sie zu einer richtigen, befriedigenden Definition des Moralischen nicht kommt, wenn sie sich nicht auf den Boden stellt, dass es dem Menschen möglich ist, sein Geistig-Seelisches unabhängig vom Leibe in sich zu erleben. Denn eine andere wirkliche Definition des Moralischen ist nicht möglich, als nur diejenige: Moralisch ist das, was der Mensch beschließt, was der Mensch tut durch Kräfte, die unabhängig von seinem Leibe sind (Hervorhebung IH).

 

aus Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 159, Seite 128f