von Ingo Hagel
Die biologischen Wissenschaften (Medizin, Biologie etc.) sind auf das Paradigma gegründet, die gesamte Welt der Erscheinungen sei ein Produkt der toten Materie und allein aus den Gesetzen von Chemie und Physik zu erklären. Konsequente Weiterentwicklungen dieser These sind die Behauptungen, nicht nur das Leben sondern auch die Seele oder der Geist des Menschen seien nur Resultate der Vorgänge des toten Stoffes – nichts besonderes also.
Das Selbstbewusstsein, mit dem diese These bis heute von der universitären Wissenschaft vertreten wird, ruht auch auf der Entdeckung des DNA-Modells von Watson und Crick, die dafür 1962 den Nobelpreis erhielten. Damit und mit dem sich daraus ergebenden neuen Forschungszweig der Genetik schien die Frage, was denn Leben – sowie Seele und der menschliche Geist – sei, endgültig gelöst: materielle Vorgänge.
Auf Wikipedia ist zu lesen: „Im hohen Alter versuchte sich Crick an seinem eigenen Institut im kalifornischen La Jolla an einer großen Herausforderung, dem Versuch, das Wesen des Geistes zu enträtseln und durch eine umfassende Theorie zu erklären. So postulierte er 1990, dass nun die Zeit reif wäre, das Rätsel des menschlichen Geistes naturwissenschaftlich in Angriff zu nehmen. Die Menschen, „ihre Freuden und Leiden, ihre Erinnerungen, ihre Ziele, ihr Sinn für ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alldem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen“, formulierte er in seinem 1994 erschienenen Buch „Was die Seele wirklich ist“.“
Francis Crick, im Hintergrund ein Gehirnmodell, das ihm von Jacob Bronowski vermacht wurde (aus Wikipedia)
Natürlich soll gegen die objektiven Beobachtungen und Entdeckungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaft nichts eingewendet werden. Nur, was als Schlussfolgerungen daraus gezogen wird, hält einem tieferen Nachdenken – und auch den Beobachtungen der Naturwissenschaft selber – nicht Stand. So ist es natürlich bereits ein Widerspruch in sich, den von Francis Crick angesprochenen „menschlichen Geist“ – also etwas Ungegenständliches, Immaterielles – durch die gegenständliche Methode der Naturwissenschaft untersuchen zu wollen.
Aber betrachten wir ein anderes Beispiel für die vielen Denkirrtümer, die von der Wissenschaft begangen werden: In ihrem Buch „Das Werden des Lebens – Wie Gene die Entwicklung steuern“ schreibt die Biologin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard: „Der Zellkern enthält mit den Genen die gesamte erbliche Information für ein Entwicklungsprogramm.“ Das Kap. IX des Buches ist überschrieben: „Evolution, Baupläne und Genome“. Nun verläuft die Entwicklung eines Organismus in sinnlich wahrnehmbaren Formen. Das Problem ist, dass die Genetik diesen von ihr behaupteten „Bauplan“ für die Formen der Organismen nicht mit den Sinnen (oder Methoden), auf die sich die Naturwissenschaft einzig und allein stützen will, beobachten und nachweisen kann. In der monotonen Struktur der Doppel-Helix der DNA sowie deren Basensequenzen (Gene) liegen die mannigfaltigen Formen der Organismen nicht. Handelt es sich einfach um einen Denkfehler oder ist es schlichtweg unwissenschaftlich, von „Bauplänen“ zu sprechen, wenn man diese auf dem eingeschlagenen naturwissenschaftlichen Weg der Sinnesbeobachtung nicht nachweisen kann?
Mehr noch, auch eine stoffliche (genetische) Grundlage für das Verhalten und den weisheitsvollen Instinkt der Tiere wird auf diese Weise niemals zu begründen sein. Da ist die Riesen-Tarantel im tropischen Regenwald, die mit einer geschickten Bewegung ihrer Hinterbeine die giftigen, juckenden Haare ihres Hinterleibes abstreift und gegen ihre Verfolger schleudert. Was für ein großartiger Instinkt! Aber woher stammt diese Weisheit? Aus den Genen? Das ist lächerlich, außer die Naturwissenschaft will ernsthaft annehmen, die Stoffe oder die Gene denken beziehungsweise sind voller weisheitsvoller Gedanken und setzen diese ebenso weisheitsvoll in die Tat um.
Die nur auf die Sinnesbeobachtung gegründete Naturwissenschaft leistete einen bedeutenden Beitrag für die Befreiung des menschlichen Bewusstseins von Aberglauben und kirchlichen Dogmen sowie für die Selbständigkeit und Freiheit des menschlichen Geistes. Heute stehen wir bewusstseinsgeschichtlich an dem Punkt, an dem ein neuer Schritt unternommen werden muss, wenn sich diese Wissenschaft nicht immer weiter zur reinen technischen Nutzanwendung entwickeln soll nach dem Muster: „Wir wissen zwar nicht warum, aber egal, man kann was damit machen“. Dieser wissenschaftliche Pragmatismus hat allerdings auch zur Folge, dass die Gesellschaft die Folgen dieses nur auf die Sinneswelt gerichteten Denkens und Forschens – zum Beispiel in Form der durch die Gentechnik (oder moderner Züchtungsmethoden) erzeugten Produkte – buchstäblich wird verdauen müssen.
Dieser neue Schritt, der sowohl in der Wissenschaft – als auch in der übrigen daran angrenzenden Welt, insofern diese auf die Wissenschaft bezug nimmt – zu gehen ist, besteht in der Erfassung und Erfahrung des Denkens selbst. Rudolf Steiners hat diese seine Entdeckung – unter anderem – in seinen Werken „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Die Philosophie der Freiheit“ beschrieben. In den letzten Jahrhunderten der menschlichen Bewusstseinsentwicklung hat das Denken sein leuchtturmartiges Licht alleine auf die den Sinnen erfahrbare Außenwelt gelenkt. Je stärker die Forschung sich bemühte, das Licht des Denkens auf die materielle Welt zu werfen, umso mehr blieb dieses Denken selber unerkannt und verborgen im Dunkeln, weil es übertönt wurde von den Sinneserscheinungen. Der Wissenschaftler – und jeder denkende Mensch – arbeitet also mit einem Werkzeug, über das er sich keine Rechenschaft ablegt. Das Arbeiten mit einer unerkannten Methode ist wissenschaftlich aber nicht akzeptabel, da ich nicht weiß, inwiefern dieses Werkzeug (das Denken) den Beobachtungsgegenstand verändert. Solange diese Frage nicht geklärt ist, ist jeder weitere Schritt in der heutigen sogenannten modernen Naturwissenschaft in seiner Aussagekraft zu bezweifeln. Wird allerdings von der Wissenschaft diese Beobachtung des Denkens angegangen, besteht berechtigte Hoffnung auch auf eine Lösung der bisher unlösbaren Fragen: Was ist Leben? Woher kommt der weisheitsvolle Instinkt der Tiere sowie die Zweckmäßigkeit in der Natur? Sind die Seele und der Geist des Menschen nur ein Geschehen des Leibes? Ist die menschliche Willensfreiheit eine Illusion oder nicht?
Es sind also nicht die Dinge innerhalb der Sinneswelt, um deren Entdeckung und Erforschung man sich Sorgen machen muss. Aber ob die nicht-sinnlichen Entdeckungen einer geistigen Welt angegangen werden, das, was Rudolf Steiner Imagination, Inspiration und Intuition nennt, das ist die große Frage, die man sich angesichts einer Welt, die nur für Äußerlichkeiten Sinn haben will, stellen muss. Das Licht des Leuchtturm (das Denken des Menschen) darf nicht immer weiter nur auf die Sinneswelt geworfen werden, sondern das Denken muss sich auch selber erfassen lernen. Das wird die wirkliche neue Entdeckung sein. Sie ist – wie gesagt – von Rudolf Steiner vor über 120 Jahren gemacht und ausführlich beschrieben worden – mittlerweile ist sein Werk sogar frei im Internet verfügbar.
Natürlich ist es ungewohnt und daher anstrengend, sein altes Denken, das sich nur auf die Krücken der Sinneswahrnehmungen stützen will und alleine (noch) nicht gehen kann, zu verlassen. Ohne den Willen, dieses immer wieder zu versuchen, wird es nicht gelingen. Nicht die Gedanken Rudolf Steiners sind unverständlich, sondern die herrschenden intellektuellen Denkgewohnheiten sind absolut ungeeignet, diese spirituellen Gedanken nachzudenken. Der Zustand ist allerdings nicht unabänderlich. Denn durch die Bemühung einer Auseinandersetzung mit diesen so neuen sinnlichkeitsfreien Inhalten tritt bereits eine Verwandlung ein. Es ist ja wirklich nicht so, dass die Dinge, die Rudolf Steiner beschreibt, nicht zu verstehen wären. Sie sind zu verstehen, aber sie erfordern dazu eine größere Willensanstrengung.
Viele Menschen sehnen sich heute nach einer geistigen Betrachtung der Welt, weil sie die Unzulänglichkeit und seelische Ödnis der alten intellektuellen Sichtweise spüren. Sie verhalten sich aber wie Entdecker, die übers Wasser zu einem anderen Kontinent fahren wollen – aber mit einem Panzer statt mit einem Schiff, das schwimmen kann. Der Boden der sinnlichen Welt versinkt eben auf dem Weg in das Geistgebiet, und der Mensch mit ihm, wenn er sich nicht für die neuen Gegebenheiten präpariert. Aber dazu bietet das – nicht einfach zu studierende – Werk Rudolf Steiners die nötige Voraussetzung: Erst einmal das denken zu lernen, was einen – gerade durch die Anstrengung dieser gedanklichen Auseinandersetzung – auf die Wahrnehmung dieses neuen Kontinentes vorbereitet. Denn ansonsten droht dem Panzer bereits mit der ersten Berührung des Wassers das Versinken.