Wenn wir das vorausgeschickt haben, können wir nun fragen: Was machen nun die toten Kräfte mit der menschlichen Natur? Es wirken ja in die menschliche Natur herein die todbringenden Kräfte, die draußen in der Natur vorwaltend sind; denn gäbe der Mensch der äußeren Natur nicht fortwährend Belebung, so müßte sie absterben. Wie walten also diese todbringenden Kräfte in der menschlichen Natur? Sie walten so, daß der Mensch alle diejenigen Organisationen durch sie hervorbringt, die in der Linie vom Knochensystem bis zum Nervensystem liegen. Was die Knochen und alles, was mit ihnen verwandt ist, aufbaut, das ist ganz anderer Natur als dasjenige, was die anderen Systeme aufbaut. In uns spielen die todbringenden Kräfte herein: wir lassen sie, wie sie sind, und dadurch sind wir Knochenmenschen. In uns aber spielen weiter noch die todbringenden Kräfte herein: wir schwächen sie ab, und dadurch sind wir Nervenmenschen. – Was ist ein Nerv? Ein Nerv ist etwas, was fortwährend Knochen werden will, was nur dadurch verhindert wird, Knochen zu werden, daß es mit nicht knochenmäßigen oder nicht nervösen Elementen der Menschennatur in Zusammenhang steht. Der Nerv will fortwährend verknöchern, er ist fortwährend gedrängt abzusterben, wie der Knochen im Menschen immer etwas in hohem Grade Abgestorbenes ist. Beim tierischen Knochen liegen die Verhältnisse anders, er ist viel lebendiger als der menschliche Knochen. – So können Sie sich die eine Seite der Menschennatur vorstellen, indem Sie sagen: Die todbringende Strömung wirkt im Knochen- und Nervensystem. Das ist der eine Pol.
Die fortwährend Leben gebenden Kräfte, die andere Strömung, wirkt im Muskel- und Blutsystem und in allem, was dazugehört. Nerven sind nur deshalb überhaupt keine Knochen, weil sie mit dem Blut- und Muskelsystem so im Zusammenhang stehen, daß der Drang in ihnen, Knochen zu werden, den in Blut und Muskel wirkenden Kräften entgegensteht. Der Nerv wird nur dadurch nicht Knochen, weil ihm Blut- und Muskelsystem entgegensteht und sein Knochenwerden verhindert. Besteht im Wachstum eine falsche Verbindung zwischen Knochen einerseits und Blut und Muskeln andererseits, so kommt die Rachitis zustande, die ein Verhindern des richtigen Absterbens des Knochens durch die Muskel-Blutnatur ist. Es ist daher außerordentlich wichtig, daß im Menschen die richtige Wechselwirkung zustande kommt zwischen dem Muskel-Blutsystem auf der einen Seite und dem Knochen-Nervensystem auf der anderen Seite. Indem in unser Auge das Knochen-Nervensystem etwas hereinragt, in der Umhüllung das Knochensystem sich zurückzieht und nur seine Abschwächung, den Nerv, hineinschickt, kommt im Auge die Möglichkeit zustande, die willensartige Wesenheit, die in Muskel und Blut lebt, mit der vorstellungsmäßigen Tätigkeit, die im Knochen-Nervensystem liegt, zu verbinden. Da kommen wir wieder auf etwas, was in der älteren Wissenschaft eine große Rolle gespielt hat, was aber von der heutigen Wissenschaft als kindliche Vorstellung verlacht wird. Doch die neuere Wissenschaft wird schon wieder darauf zurückkommen, nur in anderer Form.
Die Alten haben in ihrem Wissen immer eine Verwandtschaft gefühlt zwischen dem Nervenmark, der Nervensubstanz und dem Knochenmark oder der Knochensubstanz, und sie sind der Meinung gewesen, daß man mit dem Knochenteil ebenso denkt wie mit dem Nerventeil. Das ist auch die Wahrheit. Wir verdanken alles, was wir an abstrakter Wissenschaft haben, der Fähigkeit unseres Knochensystems. Warum kann der Mensch zum Beispiel Geometrie ausbilden? Die höheren Tiere haben keine Geometrie; das sieht man ihrer Lebensweise an. Es ist nur ein Unsinn, wenn manche Leute sagen: Vielleicht haben die höheren Tiere auch Geometrie, man merkt es vielleicht nur nicht. – Der Mensch also bildet Geometrie aus. Wodurch aber bildet er zum Beispiel die Vorstellung eines Dreiecks aus? Wer wirklich über diese Tatsache nachdenkt, daß der Mensch die Vorstellung des Dreiecks ausbildet, der muß etwas Wunderbares darin finden, daß der Mensch das Dreieck, das abstrakte Dreieck, das im konkreten Leben nirgends vorhanden ist, rein aus seiner geometrisch-mathematischen Phantasie heraus ausbildet. Es liegt vieles Unbekannte zugrunde den Geschehnissen der Welt, die offenbar sind. Denken Sie sich zum Beispiel an einem bestimmten Platze dieses Zimmers stehend. Sie führen zu gewissen Zeiten als übersinnliches Menschenwesen merkwürdige Bewegungen aus, von denen Sie für gewöhnlich nichts wissen, ungefähr in der Art: Sie gehen ein Stückchen nach der einen Seite, dann gehen Sie ein Stückchen zurück, und dann kommen Sie wieder an Ihrem Platze an. Eine unbewußt bleibende Linie im Räume, die Sie beschreiben, verläuft tatsächlich als eine Dreiecksbewegung. Solche Bewegungen sind tatsächlich vorhanden, Sie nehmen sie nur nicht wahr, aber dadurch, daß Ihr Rückgrat in die Vertikale gerückt ist, sind Sie in der Ebene drinnen, in der diese Bewegungen verlaufen. Das Tier ist nicht in dieser Ebene drinnen, es hat sein Rückenmark anders liegen; da werden diese Bewegungen nicht vollführt. Indem der Mensch sein Rückenmark vertikal stehen hat, ist er in der Ebene, wo diese Bewegung ausgeführt wird. Zum Bewußtsein bringt er es sich nicht, daß er sich sagte: Ich tanze da fortwährend in einem Dreieck. – Aber er zeichnet ein Dreieck und sagt: Das ist ein Dreieck! – In Wahrheit ist das eine unbewußt ausgeführte Bewegung, die er im Kosmos vollführt.
Diese Bewegungen, die Sie in der Geometrie fixieren, indem Sie geometrische Figuren zeichnen, führen Sie mit der Erde aus. Die Erde hat nicht nur die Bewegung, welche sie nach der Kopernikanischen Weltansicht hat: sie hat noch ganz andere, künstlerische Bewegungen, die werden da fortwährend ausgeführt. Und noch viel kompliziertere Bewegungen werden ausgeführt, solche Bewegungen zum Beispiel, die in den Linien liegen, welche die geometrischen Körper haben: der Würfel, das Oktaeder, das Dodekaeder, das Ikosaeder und so weiter. Diese Körper sind nicht erfunden, sie sind Wirklichkeit, nur unbewußte Wirklichkeit. Es liegen in diesen und in noch anderen Körperformen merkwürdige Anklänge an dieses für die Menschen unterbewußte Wissen. Das wird dadurch herbeigeführt, daß unser Knochensystem eine wesentliche Erkenntnis hat; aber Sie reichen nicht mit Ihrem Bewußtsein bis zum Knochensystem hinunter. Das Bewußtsein davon erstirbt, es wird nur reflektiert in den Bildern der Geometrie, die der Mensch da als Bilder ausführt. Der Mensch ist recht sehr eingeschaltet in den Kosmos. Indem er die Geometrie ausbildet, bildet er etwas nach, was er selbst im Kosmos tut.
Da blicken wir auf der einen Seite in eine Welt hinein, die uns mitumfaßt und die fortwährend im Absterben ist. Auf der anderen Seite blicken wir in alles das hinein, was in die Kräfte unseres Blut-Muskelsystems hereinragt: das ist in fortwährender Bewegeng, in fortwährendem Fluktuieren, in fortwährendem Werden und Entstehen; das ist ganz keimhaft, da ist nichts Totes. Wir halten in uns den Sterbeprozeß auf, und nur wir als Menschen können ihn aufhalten und bringen in das Sterbende Werden hinein. Wäre der Mensch nicht hier auf der Erde, so würde eben längst das Sterben sich ausgebreitet haben über den Erdenprozeß, und die Erde wäre als Ganzes in eine große Kristallisation übergegangen. Nicht erhalten aber hätten sich die einzelnen Kristalle. Wir entreißen die einzelnen Kristalle der großen Kristallisation und erhalten sie, solange wir sie für unsere Menschenevolution brauchen. Wir erhalten aber damit auch das Leben der Erde rege. Wir Menschen sind es also, die das Leben der Erde rege halten, die nicht ausgeschaltet werden können vom Leben der Erde. Daher war es schon ein realer Gedanke von Eduard von Hartmann, der aus seinem Pessimismus heraus wollte, daß die Menschheit einmal eines Tages so reif wäre, daß alle Menschen sich selbst mordeten. Man braucht auch gar nicht das noch hinzuzufügen, was Hartmann aus der Beschränktheit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung wollte: weil ihm nämlich das nicht genügt hätte, daß alle Menschen sich eines Tages selbst mordeten, wollte er auch noch die Erde durch eine großangelegte Unternehmung in die Luft sprengen. Das hätte er nicht gebraucht. Er hätte nur den Tag des großen Selbstmordens anordnen brauchen, und die Erde wäre von selbst langsam in die Luft gegangen! Denn ohne das, was vom Menschen in die Erde verpflanzt wird, kann die Erdenentwickelung nicht weitergehen. Von dieser Erkenntnis aus müssen wir uns wieder gefühlsmäßig durchdringen. Es ist notwendig, daß in der Gegenwart diese Dinge verstanden werden.
Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, daß in meinen allerersten Schriften immer ein Gedanke wiederkehrt, durch den ich die Erkenntnis auf eine andere Basis stellen wollte, als sie heute steht. In der äußeren Philosophie, die auf anglo-amerikanisches Denken zurückgeht, ist der Mensch eigentlich ein bloßer Zuschauer der Welt; er ist mit seinem inneren Seelenprozeß ein bloßer Zuschauer der Welt. Wenn der Mensch nicht da wäre, so meint man, wenn er nicht in der Seele wieder erlebte, was in der Welt draußen vor sich geht, so wäre doch alles so, wie es ist. Das gilt für die Naturwissenschaft in bezug auf jene Tatsachenentwickelung, die ich angeführt habe, es gilt aber auch für die Philosophie. Der heutige Philosoph fühlt sich sehr wohl als Zuschauer der Welt, das heißt, in dem bloß ertötenden Element des Erkennens. Aus diesem ertötenden Element wollte ich die Erkenntnis herausführen. Daher habe ich immer wiederholt: Der Mensch ist nicht bloß ein Zuschauer der Welt, sondern er ist Schauplatz der Welt, auf dem sich die großen kosmischen Ereignisse immer wieder und wieder abspielen. Ich habe immer wieder gesagt: Der Mensch ist mit seinem Seelenleben der Schauplatz, auf dem sich Weltgeschehen abspielt. So kann man das auch in philosophisch-abstrakte Form kleiden. Und besonders, wenn Sie das Schlußkapitel über Freiheit in meiner Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» lesen, werden Sie finden, daß dieser Gedanke scharf betont ist: daß dasjenige, was sich im Menschen vollzieht, nicht etwas ist, was der übrigen Natur gleich ist, sondern daß die übrige Natur hereinragt in den Menschen und daß dasjenige, was im Menschen sich vollzieht, zugleich ein kosmischer Vorgang ist, so daß die menschliche Seele ein Schauplatz ist, auf dem sich ein kosmischer Vorgang abspielt, nicht bloß ein menschlicher. Damit wird man natürlich in gewissen Kreisen heute noch schwer verstanden. Aber ohne daß man sich mit solchen Anschauungen durchdringt, kann man unmöglich ein richtiger Erzieher werden.
Was geschieht denn tatsächlich in der menschlichen Wesenheit? Auf der einen Seite steht die Knochen-Nervennatur, auf der anderen Seite die Blut-Muskelnatur. Durch das Zusammenwirken beider werden fortwährend Stoffe und Kräfte neu geschaffen. Die Erde wird vor dem Tode dadurch bewahrt, daß im Menschen selber Stoffe und Kräfte neu geschaffen werden. Jetzt können Sie das, was ich eben gesagt habe: daß das Blut durch seine Berührung mit den Nerven Neuschöpfung von Stoffen und Kräften bewirkt, zusammenbringen mit dem, was ich im vorigen Vortrage sagte: daß das Blut fortwährend auf dem Wege zur Geistigkeit ist und dabei aufgehalten wird. Diese Gedanken, die wir in diesen zwei Vorträgen gewonnen haben, werden wir miteinander verbinden und dann weiter darauf aufbauen. Aber Sie sehen schon, wie irrtümlich der Gedanke der Erhaltung von Kraft und Stoff ist, wie er gewöhnlich vorgebracht wird: denn durch das, was im Inneren der Menschennatur geschieht, wird er widerlegt, und für eine wirkliche Auffassung der Menschenwesenheit ist er nur ein Hindernis. Erst wenn man wieder den synthetischen Gedanken bekommen wird, daß tatsächlich zwar nicht aus Nichts etwas hervorgehen kann, daß aber das eine so umgewandelt werden kann, daß es vergeht und das andere entsteht – erst wenn man diesen Gedanken an die Stelle des Gedankens von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes gestellt haben wird, wird man etwas Gedeihliches für die Wissenschaft erhalten können.
Sie sehen, in welcher Richtung manches, was in unserem Denken lebt, verkehrt ist. Wir stellen etwas auf, wie zum Beispiel das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, und proklamieren es als ein Weltgesetz. Dem liegt zugrunde ein gewisser Hang unseres Vorstellungslebens, unseres Seelenlebens überhaupt, in einseitiger Weise zu beschreiben, während wir nur Postulate aufstellen sollten aus dem, was wir in unserem Vorstellen entwickeln. So finden Sie zum Beispiel in unseren Physikbüchern das Gesetz von der Undurchdringlichkeit der Körper als ein Axiom aufgestellt: An der Stelle im Räume, wo ein Körper steht, kann zu gleicher Zeit kein anderer sein. – Das wird als allgemeine Eigenschaft der Körper hingestellt. Man sollte aber nur sagen: Diejenigen Körperlichkeiten oder Wesenheiten, welche so sind, daß an der Stelle des Raumes, wo sie sind, zu gleicher Zeit kein anderes Wesen gleicher Natur sein kann, die sind undurchdringlich. – Man sollte bloß die Begriffe dazu verwenden, um ein gewisses Gebiet von einem anderen abzugliedern, man sollte bloß Postulate aufstellen, sollte keine Definitionen geben, die den Anspruch erheben, universell zu sein. So sollte man auch kein Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes aufstellen, sondern man sollte aufsuchen, für welche Wesenheiten dieses Gesetz eine Bedeutung hat. Das war gerade ein Bestreben im 19. Jahrhundert, daß man ein Gesetz aufstellte und sagte: Das gilt für alles – statt daß wir unser Seelenleben dazu verwenden, um an die Dinge heranzukommen und zu beobachten, was wir an ihnen erleben.
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