Das Quintenintervall 

 

von Stella Hagel 

 

Ludwig und David, beide fünf Jahre alt, sind gute Freunde. Zumindest sind sie meistens Freunde. Ab und zu sind sie genau das Gegenteil und bekämpfen sich. Jedenfalls sind sie auf die eine oder andere Weise innig ineinander verknäult, was für mich, während ich Gruppe Eurythmie mache, manchmal ein wenig anstrengend ist. Sind sie sich gut, machen sie zusammen Schabernack. Sind sie sich nicht gut, muss ich aufpassen, dass sie sich nicht zu arg zausen. 

Am Anfang einer Eurythmiestunde muss ich sie besonders energisch zurechtweisen, weil sie drauf und dran sind, mir die Eurythmiestunde zu zerstören. Wütend schauen mich ein paar schwarze Augen an, wütend auch ein paar blaue. Ich versuche, meine innere Aufrichtekraft zu halten und stehe ihnen ebenfalls unbeugsam, mit blitzenden Augen gegenüber. Plötzlich besinnen sie sich und machen erstaunlich schön mit. Wir haben ein Weihnachtsthema und gegen Ende der Weihnachtsgeschichte stehen Ochs und Esel an der Krippe und fangen an, nachdem auch sie sich etwas schlecht benommen haben – sie hatten nämlich das Kindlein mit zu argem Blasen und Schnauben erschreckt – schön und andächtig zu singen. Das Öchslein lasse ich mit einer aufwärts gehenden Quinte „Muhu“ machen. Das heißt, ich singe eine Quinte und mache mit den Armen eurythmisch die Laute MU. Das Eselein macht mit einer abwärts führenden Quinte die Laute IA. Die Kinder, auch David und Ludwig sind ruhig, fast andächtig vom Quintenklang geworden. Da hat David auf einmal eine Idee: „Du, Frau Hagel,“ meinte er, „ich habe eine Idee. Ich singe mal alleine IA und Ihr alle singt Muhu.“ Dann fällt ihm noch was Besseres ein: „Oder“, er wendet sich zu seinem Freund Ludwig, „du singst Muhu, und alle anderen hören zu.“ Ludwig reißt sich zusammen um diese schwere Aufgabe zu lösen und singt mit hoch konzentriertem gesenkten Blick sein Muhu. David singt ebenfalls höchst konzentriert sein IA. Ein wunderbarer Doppelklang durchtönt den Raum! Schwer, ganz schwer ist so etwas für Kinder in diesem Alter, aber sie schaffen es beide und singen es immer wieder wunderschön. Alle Kinder lauschen mucksmäuschenstill und andächtig. Und die Kindergärtnerin und ich, wir stehen da und staunen mit offenem Mund und können kaum glauben, was wir da Wundersames hören dürfen.