von Stella Hagel
Meine Mutter entwickelte ihre für mich wunderbare Methode der Sprachgestaltung nicht zuletzt dadurch, dass ihr oft nur aus dem Umgang mit dieser Kunst, den Anregungen Rudolf Steiners aus dem „Dramatischen Kurs“ und seiner „Allgemeinen Menschenkunde“ Ideen zuflossen, wie sie ihren sensiblen, nicht einfach zu erziehenden Kindern helfen konnte, und wie sie ihnen durch die Kräfte der Sprache wertvolle Lebenskräfte zu vermitteln vermochte.
Ich selber hatte zu Beginn der Pubertät Probleme mit vielen Halsentzündungen und dick geschwollenen Mandeln, die mir oft schon in gesundem Zustand das Bewegen der Zunge erschwerten, und mir kaum ermöglichten, eine größere Rolle in einem Klassenspiel zu sprechen. Auch hatte mich immer wieder eine lähmende Schwere erfasst, aus der ich mich kaum herausheben konnte. Diese Probleme hat meine Mutter mit mir intensiv durch die Sprachgestaltung bearbeitet. Wir übten, die Laute von dem kranken und verkrampften Hals zu lösen und die Sprache draußen im Raum zum Erklingen zu bringen. Da ist viel gelungen! Ganz neue Kräfte wurden freigelegt, die mein Leben stark und positiv beeinflussten und mir ermöglichten, meine Rolle im Klassenspiel kraftvoll zu erfüllen.
Meine Schwester Sieglinde hatte mit sechs bis sieben Jahren Schwierigkeiten, sich in sich heimisch zu fühlen. Viele Tränen flossen, und sich gegen andere zu wehren fiel ihr schwer. Laut für Laut haben Mutter und Schwesterchen miteinander erarbeitet. Viel Phantasie musste aufgebracht werden, das zarte Seelchen bei der Stange zu halten und den schnellen Tränenfluss garnicht erst auszulösen. Langsam formte sich der kleine Leib durch das liebevolle Gestalten und Geformtwerden durch die Laute stärker. Großer Erfolg, als die Schwester eines Tages von der Schule heimkam und strahlend erzählte: „Du, Mutti, heute habe ich dem Erik eine runtergehauen, wie er wieder frech zu mir wurde.“
Unser Bruder Volker ist viel jünger als wir, und mit ihm begann das Spracheüben schon in sehr frühen Jahren. Er konnte wegen seiner Polypen kein „M“ sagen, es wurde immer ein „B-B-B“ draus und er schnorchelte so kräftig durch den Mund, so dass man immer hörte, wo er sich gerade aufhielt. Die Fähigkeiten unserer Mutter waren immer mehr gewachsen und zusammen mit einem guten Arzt hat sie es mit der Sprache hinbekommen, dass Volkers Polypen nicht operiert zu werden brauchten, da sie sich zurückbildeten.
Ein besonderes Schlüsselerlebnis war für meine Mutter das Buch von Jacques Lusseyran „Das wiedergefundene Licht“. Aus seinen Darstellungen, wie er ein neues Sehen erlernte, und wie er merkte, dass die Dinge, die er berührte, ihm entgegenkamen, bekam meine Mutter einerseits Anregungen für die Kunst, andererseits fühlte sie eine tiefe Bestätigung für Vieles, was sie selber wundersam schon an der Sprachgestaltung erleben durfte, an der sie unermüdlich weiterforschte und suchte. Sie beschloss Volker, mit dem sie viel Sprache erübt hatte und der ihr ein guter Schüler geworden war, das Buch von Jacques Lusseyran vorzulesen. Volker hörte sehr interessiert und staunend zu und sagte nach einer Weile ganz ergriffen: „Mutti, das kann doch eigentlich gar Keiner verstehen, der nicht so Sprachgestaltung gemacht hat, wie Du sie machst!“