von Stella Hagel
Das Abendlied „Guten Abend, gute Nacht“ hatte mich, fünf Jahre alt, immer schon ein wenig beunruhigt. Die Stelle „Morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt“ empfand ich ungemütlich. Oft hatte meine Mutter auf meine bangen Fragen zu verschiedenen Geschichten und Märchen, zum Beispiel ob die Lilofee bei dem wilden Wassermann nicht ertrinken muss, und wieso sie ihre Kindlein weinen lässt, und warum denn die falsche Norne will, dass der Königssohn ertrinkt, und warum der Liebste nur wiederkehren will, wenn es rote Rosen schneit, einfach gesagt: „Stellachen, das ist doch nur ein Lied.“ Sie sang gerne Volkslieder, und ich sang sie auch gerne mit, weil ich die Melodien so schön fand. Aber die Texte beunruhigten mich, und als mein Vater mir eines abends nach dem Abendgebet eine gute Nacht wünschte und enthusiastisch und voller Vertrauen in die Güte Gottes, ganz wie es seiner Natur entsprach, hinzufügte: „So Gott will, sehn wir uns morgen wieder!“ da schoss ich entsetzt hoch und saß schreckensbleich und senkrecht in meinem Bett. „Und was ist, wenn Gott es nicht will, Vati?“ Da hat der Vater sich noch intensiv mit seiner Tochter beschäftigen müssen, nachdem er sie so, allerdings unbeabsichtigt, in Angst und Schrecken versetzt hatte. Aber ganz konnte die Verunsicherung damals nicht mehr von mir weichen.