von Stella Hagel
Das Faschingsfest wurde in den drei Jahren, während denen wir in Kassel lebten, immer bei derselben Familie gefeiert. Und in allen drei Jahren entstand für mich ein besonders starkes Erlebnis. Nun war ich sechs Jahre alt, bald schon ein Schulkind, und auf einmal gab es keine freie Wahl in Bezug auf das, was ich in diesem Jahr zu Fasching sein wollte. Diesmal hatte meine Mutter für meine vierjährige Schwester und mich geplant. „Ihr werdet Dornröschen und der Prinz sein.“ Zunächst hatte ich nichts dagegen, weil ich – gegen alle Vernunft – sicher war, dass ich das Dornröschen sein würde. Ja, in dieses konnte ich mich gut hineinleben, und ich freute mich darauf. Entgeistert schaute meine Mutter mich an: „Aber Du doch nicht,“ meinte sie verwundert, „Du bist doch die Große, da bist Du doch selbstverständlich der Prinz!“
Nun gab es Gezeter. Ich ein Prinz? Niemals! Und überhaupt, die Mutter hatte geplant, das Dornröschen in den wunderschönen rosa Stoff einzuhüllen, aus dem für mich ein Sonntagskleid geschneidert werden sollte. Auch noch in meinem schönen Stoff sollte die Schwester das Dornröschen sein! Ich empfand das als ungerecht und meine Verbitterung war groß. Mir wurde ein dunkelgrünes Kittelchen angezogen. Dieses, eine Strumpfhose und ein schmaler goldener Reif im Haar war mein bescheidenes Kostüm. Ich fühlte mich nicht mal richtig angezogen und fand es peinlich. Ein Blick auf das Schwesterchen schürte meinen Neid. Zauberhaft sah die kleine Gestalt aus, ganz in meinen schönen rosa Stoff gehüllt. Die langen, dichten, aschblonden Haare wellten sich über ihre Schultern und ein Krönchen zierte das Köpfchen. Sie sah mit ihrem rundlich feinen Gesichtchen und den verträumten grünen Augen wie ein echtes Dornröschen aus. Da aber ich mich in der Seele auch wie ein wunderschönes Dornröschen fühlte, war ich missmutig und freute mich gar nicht auf das Fest.
Der Zufall wollte es, dass ich in der Garderobe der Gastfamilie für einige Augenblicke ganz alleine vor einen großen Spiegel zu stehen kam. Verwundert schaute ich mein Spiegelbild an. Ich sah eine grazile, knabenhafte Gestalt, der das grüne Kittelchen sehr schön zur rosigen Haut, dem vollen, roten Mund und den leuchtenden dunklen Augen stand. Alles strahlte eine zarte Frische aus, wie eine gerade sich öffnen wollende Rose. Andächtig und freudig nahm ich diesen Anblick in mich auf, hatte ich doch in meiner Seele einen Eindruck empfangen dürfen, den ich vorher noch nicht von mir gekannt hatte! Und ich glaube, dass in diesem Moment nicht nur die äußere Eitelkeit befriedigt wurde, sondern ein tieferes Ja-Sagen zum eigenen Wesen stattfinden konnte.