Der Wunderfisch 

 

von Stella Hagel

 

Oft und ausgiebig malte ich mit meinen Wachsmalstiften. Ab und zu verspürte ich das Bedürfnis, „richtig“ zu malen. Richtig malen bedeutete, mit Wasserfarben zu malen. Dies war eine aufwändige Sache und brauchte sorgfältige Vorbereitungen. Jedenfalls – und ich kann mich genau erinnern, wie sich das anfühlte – hatte ich ganz genaue und feste Vorstellungen davon, was zum Wasserfarbenmalen alles dazugehörte. Ich konnte nicht an meinem kleinen Tischchen auf dem Kinderstühlchen sitzen wie sonst, denn ich hatte Größeres vor. So musste das kleine Tischchen in die Küche vor den großen Esstisch geschoben werden, und auf das Tischchen musste ein Stuhl gestellt werden, damit ich an den großen Tisch heranreichen konnte. Dort oben thronte ich dann majestätisch und fühlte mich in schwindelnder Höhe über dem Alltäglichen schwebend, würdig, um mit den Wasserfarben zu malen, die vor mir sorgfältig aufgebaut waren, mit Pinsel, Malbrett und nassgemachtem Papier. Losgehen konnte das Malen aber erst, nachdem – und da war ich mir ganz sicher, dass es unbedingt dazugehört – ein großer Becher heiße Milch mit Honig für meinen Malplatz zubereitet worden war, indem ein Trinkröhrchen steckte, aus welchem ich regelmäßig während des Malens kleine Schlucke nehmen konnte, ohne den Becher berühren zu müssen, da ich mit den Händen ja malen musste. 

Nach diesen sorgfältigen Vorbereitungen konnte es beginnen. Das heißt, zuerst musste auf dem Papier noch etwas geregelt werden. Mir gefiel nämlich das eckige Papier nicht, und ich musste erst rechts und links desselben Bögen ziehen, die mein Bild einrahmten. In diesem Halbrund entfaltete ich dann meine Malkunst. Den Pinsel benutzte ich auch ganz auf meine eigene Weise. Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, dass das haarige Ende zum Malen gedacht sein sollte, denn es schien mir der Kopf des Pinsels zu sein, und tauchte daher mit Selbstverständlichkeit den Stiel in die Farben und kratzte mit diesem dann ernsthaft auf dem Papier herum. So entstanden, da meine Eltern nicht rechthaberisch waren, etliche ähnlich aussehende „Kunstwerke“. 

Eines Tages beschloss mein Vater, mir auf wunderbare, liebevolle Weise das Malen mit der Quaste des Pinsels zu zeigen. Er holte Pinsel und Farben und mich herunter von dem Thron und malte mit mir auf dem Fußboden. Das Papier wurde nass gemacht und der Vater tauchte andachtsvoll den Pinsel mit der haarigen Seite in die Farbe hinein. Und, oh Wunder, auf dem Papier entstand, ein wunderschöner, in allen Farben schimmernder großer Fisch. Ich staunte! Ich staunte über die bunten Farben und Flächen, die mein Vater malen konnte. Bei mir waren ja nur dünne Striche, und den Unterschied empfand ich tief. Trotzdem ich überwältigt von der Schönheit des farbigen Fisches war, meldete sich ein Eigenwille in mir, der mich zwang das Gemälde mit beiden Händchen zu ergreifen und es mit den Worten „Aber iss (ich) mache es anders“, umzudrehen, meinem Vater den Pinsel aus der Hand zu nehmen und damit wie gehabt auf dem Papier herumzukratzen. Wieder hat mein lieber Vater nicht rechthaberisch reagiert. Er verlor kein Wort über sein zerstörtes Kunstwerk, ließ mich ruhig weiter kratzen, verließ aber die Küche. Nachdem ich mein Bild zuendegekratzt hatte, hockte ich still am Boden, und es überkam mich heimlich eine Sehnsucht nach dem schönen bunten Fisch. So gerne wollte ich ihn noch einmal sehen und drehte das Papier wieder um. Aber oh weh! Von dem schönen Fisch war natürlich nicht mehr viel zu sehen. Ganz verschwommen waren die schönen Farben. Damit hatte ich nicht gerechnet, als ich das Blatt umgedreht hatte, um meinen eigenen Stil weiterzuführen. Nun war der schöne Fisch zerstört, und ich trauerte im geheimen tief um ihn. 

Meinen Vater habe ich vor zwei Jahren an diese Geschichte erinnert, um ihm zu sagen, wie anregend er auf mein künstlerisches Erleben immer wieder gewirkt hat, und um ihn, der längere Zeit im Krankenhaus weilen musste, anzuregen, nun selber zu malen. In Erinnerung an den farbigen Fisch stellte ich mir vor, dass verborgene Fähigkeiten in ihm stecken müssten. Und ich hatte recht damit. Er ließ sich anregen, und es entstanden viele schöne und originelle Bilder. An mein eigenwilliges „aber iss mache es anders“ konnte auch er sich noch lebhaft erinnern. Nur an den schönen Fisch, den er damals gemalt hatte, an den konnte er sich nicht mehr erinnern.