Rudolf Steiner: Wir kommen in der Regel nicht in die geistigen Welten hinein, ohne daß wir durch eine tiefe Erschütterung unserer Seele schreiten.

 

GA 146, S. 26 

Wir kommen in der Regel nicht in die geistigen Welten hinein, ohne daß wir durch eine tiefe Erschütterung unserer Seele schreiten. Etwas müssen wir erfahren in der Regel, etwas, das all unsere Kraft der Seele durchrüttelt, sie durchströmt in Gefühl und Empfindung. Gefühl und Empfindung, die sonst nur über viele Momente, über weite Zeitläufe des Lebens verteilt sind und deshalb nur schwach fortdauernd auf die Seele wirken, beim Eingang in die okkulten Welten drängen sie sich zusammen und durchwühlen und durchkraften die Seele in einem einzigen Moment, so daß man so etwas Erschütterndes erlebt, das der Furcht, der Angst, der Bestürzung, dem Zurückbeben vor irgend etwas, vielleicht auch dem Grauen verglichen werden kann. Das gehört einmal sozusagen zu dem Ausgangspunkte okkulter Entwickelung, zu dem Eintreten in die geistigen Welten. Daher muß ja auch so große Sorgfalt verwendet werden auf jene Ratschläge, die demjenigen gegeben werden müssen, der durch eine Schulung in die geistigen Welten eintreten will. Denn wer durch Schulung in die geistigen Welten eintreten will, der muß so vorbereitet werden, daß er die eben charakterisierte Erschütterung als seelisches Ereignis, als notwendiges Erlebnis so durchlebt, daß es nicht übergreift auf seine Leiblichkeit, auf seine Gesundheit, insofern das Leibliche mit einbegriffen ist, daß dieses nicht mit erschüttert werde. Das ist das Wesentliche, daß wir nicht in bezug auf das äußere, physische Leben in Erschütterungen kommen, daß wir ertragen lernen mit äußerem Gleichmut, mit äußerer Gelassenheit Erschütterungen der Seele. Dann aber dürfen auch die gewöhnlichen Seelenkräfte, die wir im Alltagsleben brauchen, unsere gewöhnliche Intellektualität, ja, selbst die für das Alltagsleben notwendigen Phantasiekräfte, die Kräfte des Empfindens, die Kräfte des Willens im alltäglichen Leben, auch sie dürfen nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. In viel tieferen Schichten muß vorgehen die Seelenerschütterung, die der Ausgangspunkt sein kann für das okkulte Leben, so daß der Mensch durch das äußere Leben geht, wie er immer gegangen ist, ohne daß irgend etwas ihm angemerkt wird in der äußeren physischen Welt, während er im Innern ganze Welten von Seelenerschütterungen durchlebt. Das heißt reif sein für die okkulte Entwickelung, so innerlich Erschütterndes erleben zu können, ohne das äußere Gleichmaß, die äußere Gelassenheit zu verlieren. 

Dazu ist notwendig, daß der Mensch in der Zeit, in der er reif zu werden sich bestrebt für die okkulte Entwickelung, vor allem seine Interessenkreise erweitert, daß er von dem gewöhnlichen, alltäglichen Leben abkommt mit seinem Interessenkreise, von dem, woran man sonst vom Morgen bis zum Abend hängt, abkommt, und daß er zu Interessen gelangt, die sich auf dem großen Horizont der Welt bewegen. Denn wer nicht erleben kann das Erschütternde des Zweifels an aller Wahrheit, an aller Erkenntnis und allem Wissen, und dieses Erschütternde nicht erleben kann mit jener Stärke, in der sonst von dem Menschen nur empfunden werden die Interessen des alltäglichen Lebens, wer nicht mitfühlen kann mit dem Schicksal der ganzen Menschheit und diesem Schicksale der ganzen Menschheit nicht ein solches Interesse entgegenbringt, wie es im alltäglichen Leben entgegengebracht wird dem Schicksale, das einen selbst unmittelbar berührt, das vielleicht noch die nächsten Stammes-, Familien- und Volkszusammenhänge berührt, der ist im Grunde noch nicht ganz geeignet für eine okkulte Entwickelung. Daher ist ja auch die moderne Geisteswissenschaft, wenn sie in Ernst und Würde getrieben wird, die richtige Vorbereitung in unserer Zeit für eine wahrhafte, okkulte Entwickelung. Mögen die Menschen, die kein Interesse gewinnen können für dasjenige, was des Anthroposophen Blick verfolgt über Welten hin, über planetarische Schicksale, über Menschenrassen und Menschenepochen hin, mögen die Menschen mit den kleinen materiellen Interessen des heutigen Tages auch darüber spötteln: für denjenigen, der sich vorbereiten will in würdiger Weise für eine okkulte Entwickelung, ist dies die Vorbereitung, dieses Heraufheben des Blickes zu jenen Gipfelpunkten, wo die Interessen der Menschheit, der Erde, des ganzen planetarischen Systems ihm zu eigenen Interessen erwachsen. Denn wo die Interessen allmählich geschärft, erweitert werden durch das Studium der Geisteswissenschaft, das dann zum Begreifen der okkulten Wahrheiten führt, auch ohne okkulte Schulung, da ist die richtige Vorbereitung für einen okkulten Weg. Gewiß, in unserer Zeit gibt es viele Menschen – diejenigen, die in den Reihen der Intellektuellen stehen, sind es oftmals gar nicht, diejenigen, die scheinbar in einem einfachen Leben an einem einfachen Orte stehen, sind es gerade oftmals -, gewiß, es gibt viele Menschen, die heute, auf einfacher Stelle stehend, wie durch einen natürlichen Instinkt diese Interessen für die Gesamtmenschheit haben: und weil dies so ist, deshalb ist die Anthroposophie etwas so Zeitgemäßes. 

Erst muß man also dasjenige lernen, was wie eine gewaltige Erschütterung der Seele am Ausgangspunkte okkulten Erlebens stehen muß.