Rudolf Steiner zu dem deutschen Philosophen Fichte: Das Ich setzt sich selbst

 

(GA 30 S. 135) 

Der große Philosoph der abendländischen Gedankenentwickelung, der in unmittelbarer Weise auf eine Erkenntnis des menschlichen Selbstbewusstseins ausging, ist Johann Gottlieb Fichte. Für ihn ist es bezeichnend, daß er ohne alle Voraussetzung mit völliger Unbefangenheit an diese Erkenntnis herangeht. Er hat das klare, scharfe Bewusstsein davon, daß nirgends in der Welt ein Wesen zu entdecken ist, von dem das Ich abgeleitet werden könnte. Es kann deshalb nur aus sich selbst abgeleitet werden. Nirgends ist eine Kraft zu entdecken, aus der das Sein des Ich fließt. Alles, was das Ich braucht, kann es nur aus sich selbst gewinnen. Nicht bloß gewinnt es durch Selbstbeobachtung Aufschluss über sein eigenes Wesen, es setzt erst durch eine unbedingte, voraussetzungslose Handlung dieses Wesen in sich hinein. 

«Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. Es ist zugleich das Handelnde und das Produkt seiner Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind ein und dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Tathandlung.» 

Völlig unbeirrt durch den Umstand, daß frühere Philosophen das Wesen, das er da beschreibt, außer den Menschen versetzt haben, naiv betrachtet Fichte das Ich. Deshalb wird das Ich ihm naturgemäß zum höchsten Wesen. 

«Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es, und so wie es ist, setzt es sich: und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin und notwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich … Man hört wohl die Frage aufwerfen: was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewusstsein kam? Die natürliche Antwort darauf ist: ich war gar nicht; denn ich war nicht Ich … Sich selbst setzen und Sein sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich.» 

Die vollständige, lichte Klarheit über das eigene Ich, die rücksichtslose Aufhellung des persönlichen, menschlichen Wesens tritt damit an den Anfang des menschlichen Denkens. Die Folge davon muß sein, daß von hier aus der Mensch an die Eroberung der Welt geht. Die zweite der oben genannten Goetheschen Forderungen: Erkenntnis meines Verhältnisses zur Welt, schließt sich an die erste: Erkenntnis des Verhältnisses, das das Ich zu sich selbst hat. Von diesen beiden Verhältnissen wird diese auf Selbsterkenntnis gebaute Philosophie sprechen. Nicht von der Herleitung der Welt aus einem Urwesen. Man kann nun fragen: soll denn der Mensch sein eigenes Wesen an die Stelle des Urwesens setzen, in das er den Weltursprung verlegt? Kann sich denn gar der Mensch selbst zum Ausgangspunkte der Welt machen? Demgegenüber muß betont werden, daß diese Frage nach dem Weltursprung aus einer niederen Sphäre stammt. Im Verlauf der Vorgänge, die uns von der Wirklichkeit gegeben sind, suchen wir zu den Ereignissen die Ursachen, zu den Ursachen wieder andere Ursachen und so weiter. Wir dehnen nun den Begriff der Verursachung aus. Wir suchen nach einer letzten Ursache der ganzen Welt. Und auf diese Weise verschmilzt für uns der Begriff des ersten, absoluten, durch sich selbst notwendigen Urwesens mit der Idee der Weltursache. Doch ist das eine bloße Begriffskonstruktion. Wenn der Mensch solche Begriffskonstruktionen aufstellt, brauchen sie nicht auch eine Berechtigung zu haben. Der Begriff des fliegenden Drachen hat auch keine. Fichte geht von dem Ich als Urwesen aus, und er gelangt zu Ideen, die das Verhältnis dieses Urwesens zur übrigen Welt unbefangen, aber nicht unter dem Bilde von Ursache und Wirkung darstellen. Von dem Ich aus sucht nun Fichte die Ideen zum Begreifen der übrigen Welt zu gewinnen. Wer sich über die Natur dessen, was man Wissen oder Erkenntnis nennen kann, nicht täuschen will, kann nicht anders verfahren. Alles, was der Mensch über das Wesen der Dinge sagen kann, ist den Erlebnissen seines Innern entlehnt. «Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist» (Goethe). In der Erklärung einfachster Erscheinungen, zum Beispiel in derjenigen des Stoßes zweier Körper, liegt ein Anthropomorphismus. Das Urteil: der eine Körper stößt den andern, ist bereits anthropomorphistisch. Denn man muß, wenn man über das hinauskommen will, was die Sinne über den Vorgang aussagen, das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser Körper hat, wenn er einen Körper der Außenwelt in Bewegung setzt. Wir übertragen unser Erlebnis des Stoßens auf den Vorgang der Außenwelt und sprechen auch da von Stoß, wo wir eine Kugel heranrollen und in der Folge eine zweite weiterrollen sehen. Denn nur die Bewegungen der beiden Kugeln können wir beobachten, den Stoß denken wir im Sinne der eigenen Erlebnisse hinzu. Alle physikalischen Erklärungen sind Anthropomorphismen, Vermenschlichungen der Natur. Daraus folgt natürlich aber nicht, was so oft daraus gefolgert wird, daß diese Erklärungen keine objektive Bedeutung für die Dinge haben. Ein Teil des objektiven, in den Dingen liegenden Gehalts kommt eben erst zum Vorschein, wenn wir über sie das Licht verbreiten, das wir in unserm eigenen Innern wahrnehmen. 

Wer im Sinne Fichtes das Wesen des Ich ganz auf sich selbst stellt, kann auch die Quellen des sittlichen Handelns nur in dem Ich allein finden. Nicht mit einem andern Wesen kann das Ich die Übereinstimmung suchen, sondern nur mit sich selbst. Es läßt sich seine Bestimmung nicht vorschreiben, sondern gibt sich selbst eine solche. Handle nach dem Grundsatze, daß du dein Handeln als das möglichst wertvolle ansehen kannst. So etwa müßte man den obersten Satz der Fichteschen Sittenlehre aussprechen. 

«Der wesentliche Charakter des Ich, wodurch es sich von allem, was außer ihm ist, unterscheidet, besteht in einer Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen; und diese Tendenz ist es, was gedacht wird, wenn das Ich an und für sich, ohne alle Beziehung auf etwas außer ihm gedacht wird.» 

Eine Handlung steht also auf einer um so höheren Stufe der sittlichen Wertschätzung, je reiner sie aus der Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung des Ich fließt. 

Fichte hat in seinem späteren Leben sein auf sich gestelltes, absolutes Ich wieder in den äußeren Gott zurückverwandelt und dadurch der aus der menschlichen Schwäche stammenden Selbstentäußerung die wahre Selbsterkenntnis, zu der er so wichtige Schritte getan, zum Opfer gebracht. Für den Fortschritt dieser Selbsterkenntnis sind daher die letzten Schriften Fichtes ohne Bedeutung.