Rudolf Steiner zur materialistischen Verfasstheit der proletarischen Klasse, die nichts Geistiges, sondern nur wirtschaftliche Kräfte denken kann

 

(aus GA 189 S. 101): 

Nun muß man sich demgegenüber fragen: Wodurch gibt denn eigentlich dieses Gemeinschaftsleben gerade auf sozialem Gebiete mehr als das innere Leben des einzelnen Menschen? Nun, sehen Sie, da muß man sich schon recht klarmachen, worauf eigentlich so etwas, wie gerade die reinste Gestaltung des Denkens bei Fichte führt. Wer sich nicht philosophisch vorbereitet, sondern als gewöhnlicher Mensch, der gewohnt ist Zeitungen zu lesen, leichter faßliche Bücher zu lesen, vielleicht auch Universitätswissenschaft, wie sie heute besteht, zu verfolgen, wer sich als solcher gewöhnlicher Mensch an Fichtes Bücher heranmacht, der kann nicht mit, der findet das alles so, daß er sich an dem Gedanken wie aufgespießt fühlt – so energisch sind sie, aber so abstrakt entwickelt er sie. Es ist eben ein reines Gedankengespinst für die meisten Menschen, was Fichte da darbietet. 

Woher kommt denn das? Es kommt gerade daher, daß dieses Denken ein reines Denken ist, ein Denken, das von aller (äußeren; Anmerkung IH) Welterfahrung abgesehen nur herauswebt aus der Seele, was sich eben aus der Seele herausweben läßt. Wenn Sie Fichtes Wissenschaftslehre studieren, so schreiten Sie von Satz zu Satz in einer abstrakten Höhe vor, daß Sie oftmals gar nicht wissen, warum Sie denn eigentlich diese Gedanken hegen sollen, denn sie sagen Ihnen gar nichts. Sie können Fichtes Wissenschaftslehre durch viele Blätter lesen, und Sie erfahren: Das Ich setzt sich selbst. – Das ist zunächst auf vielen Blättern auseinandergesetzt. Das nächste: Das Ich setzt das Nichtich – wiederum auf vielen Blättern auseinandergesetzt. Das dritte: Das Ich setzt sich selbst begrenzt durch das Nichtich und das Nichtich als begrenzt durch das Ich. – Nun sind Sie schon fast durch die «Wissenschaftslehre» durch, in welcher diese Sätze nur in einer sehr stark in die Breite gehenden Deduktion auseinandergesetzt werden. Sie werden sagen: das interessiert mich gar nicht, denn schließlich sind das ja ganz ausgehöhlte Abstraktionen. Aber dennoch, wenn Sie wiederum das Fichtesche Leben und Streben so betrachten, wie ich es Ihnen einmal vor einiger Zeit hier dargestellt habe, dann bekommen Sie Respekt vor Fichte, dann bekommen Sie Respekt vor diesem Hinstreben zu dem reinen Denken. 

Woher rührt denn dieser merkwürdige Widerspruch? Sehen Sie, dieser merkwürdige Widerspruch rührt davon her, daß es einmal in der Menschheitsentwickelung notwendig geworden ist, zu diesem reinen, nur von Gedanken erfüllten Denken hinzukommen. Das menschliche Denken ist ja sonst, namentlich in älteren Zeiten immer nur – wie ich es Ihnen auch gestern wiederum ausgeführt habe – von Bildern erfüllt gewesen. Die Leute, wie Fichte, Schelling und Hegel, sie haben einmal das gedacht, was nur reine Gedanken, bildlose Gedanken sind. So hätte der Grieche nie denken können, so hätte der Römer nicht denken können, so hätte man im ganzen Mittelalter nicht denken können, denn die Scholastik ist etwas ganz anderes trotz all ihrer Abstraktheit. 

Wozu ist denn in der neueren geschichtlichen Entwickelung solch ein abstraktes Denken aufgetreten? Nun, es ist deshalb aufgetreten, weil die Menschen sich einmal anstrengen mußten. Und es gehört eine starke innere Anstrengung dazu, um sich zum Beispiel im Fichteschen Sinne bis zu einer solchen Abstraktheit zu erheben, um solche Abstraktionen sich kraftvoll zu erringen, von denen der banausische, wirklichkeitssinnliche Mensch sagt, das tauge ja gar nichts, denn da sei alle Erfahrung ausgepreßt. Das ist auch durchaus der Fall. Aber zu solchen Abstraktionen mußte man eben einmal kommen. Der erste Schritt war zu solchen Abstraktionen. Sobald man aber die innere Stoßkraft des Seelenlebens noch ein Stück weiter entwickelt über diese Abstraktionen heraus, geht es in das spirituelle Leben hinein. Es gibt keinen gesunden Weg der neueren Mystik als durch das energische Denken durch. Daher mußte zunächst das energische Denken errungen werden. Der nächste Schritt ist, daß dann über dieses energische Denken hinaus zum wirklichen Erleben des Spirituellen gegangen wird. Natürlich geht das alles in der geschichtlichen Entwickelung langsam vor sich, aber der Weg der Menschheit geht doch darauf hin. Und diese Sehnsucht, die eigentlich heute alle Menschen beherrscht, aus der Abstraktion heraus zum spirituellen Leben zu kommen, diese Sehnsucht liegt geheimnisvoll auch der in der modernen proletarischen Bewegung verankerten Kraft zugrunde.  

Der Proletarier sagt, nichts wirke von geistigen Kräften in der Geschichte; in der Geschichte wirken nur die wirtschaftlichen Kräfte. Die nimmt er mit der gröbsten Wahrnehmung auf, die betrachtet er als das allein geschichtlich Werdende. Das geistige Leben ist ein bloßer Überbau, eine Ideologie, ein Spiegelbild der äußeren wirtschaftlichen Vorgänge. – Nun ja, das stellt er sich so vor, weil der moderne Mensch, wenn er in sich blickt, die alten atavistischen Schauungen verloren hat; er erblickt in sich bloße Abstraktionen, bloße abstrakte Gedanken, in denen er keine Wirklichkeit finden kann; denn da müßte er den nächsten Schritt machen, den ich eben charakterisiert habe. Daher sucht ein jeder die Wirklichkeit, nach der er sich eigentlich aus seinem Inneren heraus sehnt, in der äußeren Welt. Und weil der Proletarier seit dem Kapitalismus eingespannt ist in das bloße Wirtschaftsleben, sucht er diese Wirklichkeit im Wirtschaftsleben. 

Was wird der nächste Schritt sein, der naturgemäße, selbstverständliche Schritt? Der wird sein, daß man durchschauen wird, daß innerhalb der wirtschaftlichen Ordnung letzten Endes nichts wirklich Treibendes liegt. Als das Treibende in der Geschichte wird gerade im Gegensatz zu diesem geschichtlichen Materialismus die Kraft aus dem Inneren erwachsen, zum Spirituellen vorzudringen. Es ist nur die Karikatur des in den Tiefen der menschlichen Seele liegenden Sehnens, was im historischen Materialismus zum Vorschein kommt. 

Und ebenso ist im Klassenbewusstsein die Kraft der einzelnen menschlichen Individualität da, die in sich selber einen Inhalt sucht, die sich darin äußert – weil sie sich selbst noch leer vorkommt, den Inhalt noch nicht gefunden hat -, daß sie sich an die ganze Klasse anlehnt, sich stark fühlt, wenn sie als Menschheit im Zusammenhang da ist. 

Und so sind alle die Impulse, die heute an der Oberfläche der sozialen Bewegung walten, im Geheimen hervorgehend aus der Quelle, die ich Ihnen eben bezeichnet habe. Und daher konnte in der Zeit, in der Fichte wirkte, die noch nicht reif war für geisteswissenschaftliches Streben, nichts anderes zum Vorschein kommen, als ein Denken, das eigentlich wartet auf das Entgegenkommen der spirituellen Welt und das für die äußere Wirklichkeit nichts taugt.