Aus Nr. 335 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 29:
Ich glaube, daß diejenigen der verehrten Zuhörer, die die ganze Reihe von Vorträgen, die ich jetzt schon seit Jahren hier halte, gehört haben, Hunderte von Belegen für dasjenige haben werden, was ich jetzt sage. Wenn man alles das zusammenfaßt, was auf diesem Gebiet gewonnen werden kann, und zuletzt die Frage aufwirft: Was ist eigentlich dieser Mensch, der du selbst bist im Zusammenhang des irdisch-kosmischen, im Zusammenhang des seelisch-geistigen Weltenwesens? -, da muß man sich sagen, gerade wenn man die Errungenschaften der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung hinlänglich zu würdigen versteht: Soviel man auch nach dieser Richtung wissen kann, soviel man Erkenntnisse haben kann über die Natur – alle diese Erkenntnisse besagen nichts über den Menschen selbst. Und indem immer mehr und mehr im Gemüte der Menschen gewissermaßen wie eine geistige – ich könnte auch sagen ungeistige – Autorität diese naturwissenschaftliche Weltanschauung sich geltend gemacht hat, erstreckte sich das, was da an Gedanken über die Natur aufgefaßt worden ist, in das Empfindungsleben, in das Willensleben hinein.
Der Mensch möchte ja wahrhaftig die Natur nicht bloß intellektualistisch erkennen. Der Mensch möchte empfinden, fühlen, was er ist. Der Mensch möchte hineingießen können in seinen Willen, in seine Willenshandlungen, in sein ganzes äußeres Leben und seine Wirkungen dasjenige, was aus seinem eigensten, tiefsten Wesen in das Weltwesen fließen kann. Er hat heute das Gefühl, daß er sich nicht bloß instinktiv verhalten kann in seinen Willensentschlüssen, in seinen Willenshandlungen, er muß irgend etwas aufnehmen, das ihm Ziele vorsetzt in bezug auf sein Handeln, in bezug auf sein Wollen. Diese Ziele, sie kommen nicht so, daß sie in einer befriedigenden Weise dieses Wollen durchdringen, wenn man über die Welt und den Menschen nichts anderes weiß, als was die Naturwissenschaft geben kann. Und so ist gerade durch die großen Errungenschaften der naturwissenschaftlichen Weltanschauung eine Verödung des menschlichen Gefühls, eine Ratlosigkeit des menschlichen Wollens eingetreten. Diejenigen Menschen, welche in einem gewissen Seelenegoismus das nicht mitmachen wollen, was die Errungenschaften der Naturwissenschaft geben, die stützen sich auf alte religiöse oder sonstige Traditionen. Sie machen sich gewissermaßen blind dafür, daß sich ja mit diesen Traditionen nicht mehr weiter leben läßt, nachdem diese Errungenschaften der Naturerkenntnis da sind. Sie machen das aus einem gewissen Seelenegoismus heraus, indem sie sich sagen: Ich erfülle mein Inneres mit dem, was das eine oder andere Bekenntnis gibt; ich kümmere mich nicht darum, ob dieses Bekenntnis heute dem Menschen, der mitgehen will mit den Forderungen seiner Zeit, noch etwas geben kann gegenüber den Aussagen naturwissenschaftlicher Denkweise.
Bei einem Symptom kann man das öffentliche Leben der Gegenwart erfassen, indem man gerade auf diese naturwissenschaftlichen Grundlagen des heutigen Denkens hinweist; mehr als ein Symptom soll es für diese Betrachtungen nicht sein, was ich so vorausschicke. Man darf nicht vergessen, dasjenige, was eine Generation denkt, das wird in den nächsten Generationen Gesinnung, Impuls des Fühlens und Wollens. Und man darf vielleicht doch heute mit einiger Berechtigung auf etwas sonderbare Leute hinweisen, die vor etwa einem halben Jahrhundert gesprochen haben. Da gab es einen, man kann schon sagen merkwürdigen Polterer, der manches so ausgesprochen hat damals in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, daß man ihn einen Polterer nennen kann. Ich meine Johannes Scherr. Indem ich ihn einen Polterer nenne, wird niemand auf die Vermutung kommen, daß ich den Mann überschätze. Allein das folgende muß doch gesagt werden: Ein Herz, einen Sinn für dasjenige, was sich in der Zivilisation Europas vorbereitete, hatte dieser Mann, und in seinen polternden Reden findet sich manche außerordentlich treffende Bemerkung, allerdings manche Bemerkung, welche die schlafenden Seelen unter den Menschen vielleicht erst heute richtig beurteilen könnten – wenn man überhaupt wiederum die Werke solcher alten Kerle in die Hand nähme; die läßt man in Bibliotheken verstauben. Johannes Scherr sah dazumal, wie jene Denkweise auf einen gewissen Höhepunkt hinaufkam, welche zwar Großartiges, Gewaltiges zu sagen vermag über Naturerkenntnisse, welche aber außerstande ist, dem Menschen zu sagen, was er eigentlich selber ist – eine Denkweise, welche außerstande ist, dem Menschen Empfindungen darüber zu geben, daß er selber in seinem innersten Wesen ein Geistig-Seelisches ist und daß er in die Impulse seines Wollens geistig-seelische Kräfte hineinzulegen habe. Johannes Scherr hat genug beobachtet, um sich zu fragen: Wie fließt eine Denkweise, die nur über die Materie zu reden vermag, nicht aber über den Menschen, wie fließt diese Denkweise in die Menschheit hinein, wenn man nicht bloß auf die Gegenwart – auf die damalige Gegenwart der sechziger, siebziger Jahre -, sondern wenn man auf die folgenden Generationen schaut? Er fragt sich, was geschieht, wenn dasjenige, was der, nun, man sagt wohl «stille Gelehrte» auf seinem Katheder in einem gewissen Zeitalter verkündet, umschlägt in Empfindungen und Gefühle der Menschen, wenn das so Verkündete umschlägt und ganz hineingeht in die Kontore, in die Fabriken, in die Banken und Börsen; er fragt sich, was geschieht, wenn das, was man als Vorstellungsart in der Naturerkenntnis geltend macht, beherrschende Vorstellungsart wird auch in bezug auf die Gestaltung der finanziellen und ökonomischen Welt.
Solche Fragen werden gewöhnlich nicht gestellt. Denn man glaubt, daß dasjenige, was der Mensch auf ökonomischem Felde denkt, was auf der Börse spekuliert wird, was in den Banken verhandelt wird, unabhängig sei von dem, was der stille Gelehrte vom Katheder herunter verkündet. Aber im Leben steht alles in innigem Zusammenhang. Dieser innige Zusammenhang verbirgt sich nur dadurch, daß etwas theoretische Denkweise sein kann bei einer Generation, bei der nächstfolgenden wird es Antrieb des äußeren Handelns, Antrieb der öffentlichen Empfindungswelt. Unter dem Eindruck solcher Gedanken sagte damals Johannes Scherr einen außerordentlich schönen Satz. Er sagte: Wenn der materialistische Ungeist, der jetzt alle Kreise beherrscht, seinen Weg durch die zivilisierte Welt nimmt; wenn er geltend macht alles dasjenige, wozu er veranlagt ist, in der Finanzwirtschaft Europas, in der ökonomischen Verfassung Europas, dann kommt eine Zeit herbei, von der man wird sagen müssen: Unsinn, du hast gesiegt!
Solche Worte sind dazumal gesprochen worden. Was liegt hinter diesen Worten? Hinter diesen Worten liegen all die Lobeshymnen auf den wirtschaftlichen Aufschwung, auf die Art, wie wir es so herrlich weit gebracht haben, auf die glorreichen Errungenschaften des modernen Lebens, mit denen wir aus dem 19. Jahrhundert in das 20. Jahrhundert hineingegangen sind. Was hat man alles hören können von der Art dieser Loblieder. Aber unter der Oberfläche all dieser Loblieder keimte fort dasjenige, wovon Johannes Scherr sagte: Es wird sich äußern so, daß man sagen muß: Unsinn, du hast gesiegt. – Und der Unsinn hat gesiegt! Schauen wir zurück auf die letzten fünf bis sechs Jahre. Was, meine sehr verehrten Anwesenden, ist das Schicksal derjenigen, die aus dem Gegenwärtigen mit einem inneren Durchschauen der Verhältnisse das Zukünftige zu errechnen verstehen? Man hört dasjenige, was sie sagen, höchstens an wie eine Sensation, aber man nimmt es nicht ernst. Man läßt die Dinge gehen, wie sie gehen, indem man sich selbst seiner schlafenden Seele hingibt, und kommt dann zu derjenigen Gesinnung, die heute zwar sieht, daß es mit jeder Woche mehr in den Abgrund hinuntergeht, aber doch immer wiederum sagt: Morgen wird es schon besser werden. Das oder jenes wird geschehen. Morgen werden wir ja schon wiederum – ja, ich weiß nicht, zu was kommen.
Wo liegt der Ursprung gerade dieser Denkweise? Worin liegt der Ursprung desjenigen, was dazumal der Polterer Johannes Scherr den Ungeist genannt hat? Der Ursprung liegt gerade darin, daß eine Weltanschauung heraufgezogen ist im Lauf der letzten drei bis vier Jahrhunderte, welche aus den Vorstellungen, die man aus ihr gewinnt, nichts über den Menschen selbst zu sagen vermag oder empfinden zu lassen vermag. Wozu ist man aber genötigt, wenn man heranerzogen wird an einer Weltanschauung, die über den Menschen selber nichts empfinden und fühlen läßt? Wozu ist man dann genötigt? Man ist genötigt, über den Menschen zu sprechen.
Ja, über den Menschen sprechen muß man; man kann es nicht vermeiden, da ja jeder eigentlich im öffentlichen Leben drinnensteht, und da im öffentlichen Leben Menschen handelnd auftreten, die miteinander reden müssen über ihre Angelegenheiten, miteinander reden müssen über die ganze Welt hin. Man kann es nicht vermeiden, über den Menschen zu sprechen.
Und was ist die Folge, wenn man über den Menschen doch sprechen muß, wenn man sprechen muß über dasjenige, was rechtlich-staatlich, was geistig-kulturell, was wirtschaftlich an Institutionen unter den Menschen behandelt werden soll? Was ist nötig, wenn man doch sprechen soll über den Menschen und keine Unterlagen hat, weil gerade das, was heraufzieht als Weltanschauung, solche Unterlagen nicht gibt – was hat man da nötig? Bei dem, was heute auf dem Gebiet des Geisteslebens, des öffentlichen Geisteslebens die Welt beherrscht, hat man nötig – weil man nicht in der Lage ist, aus innerem Erleben des Geistes heraus in seine Worte geistige Substanz zu legen -, man hat nötig die Phrase!
Sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, das will zunächst die hier gemeinte Geisteswissenschaft, daß die Menschen wiederum dazu kommen, in ihre Rede, in ihre Worte hineinzulegen dasjenige, was Worten einzig und allein die Berechtigung gibt: geistige Substanz. Geistige Substanz bekommen die Worte, die der Mensch redet, nicht aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis heraus; geistige Substanz ist nicht möglich zu gewinnen auf die bequeme Weise, die in Chemie, in Physik, in Botanik, in Biologie gepflogen wird. Geistige Substanz muß schon auf dem Wege gewonnen werden, den als einen weniger bequemen die Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, schildert. Geistige Substanz muß dadurch gewonnen werden, daß man eine wirkliche Ansicht über das innerste Wesen des Menschen gewinnt. Das ist aber nur möglich, wenn man die hier schon einmal charakterisierte intellektuelle Bescheidenheit entwickelt. Das ist nur möglich, wenn man dazu kommt, sich zu sagen: Gerade die großen Errungenschaften der Naturwissenschaft zeigen mir, daß ich, wenn ich so bleibe, wie ich rein physisch in die Welt hineingeboren bin, den großen Angelegenheiten der Menschheit gegenüberstehe wie das fünfjährige Kind einem Band Goethescher Lyrik: es zerreißt den Band, es weiß nicht, was es vor sich hat. Aber das Kind kann sich entwickeln, so daß es dann dasjenige, was ihm früher etwas ganz anderes war, seiner wirklichen Wesenheit nach nimmt. Das auf sich selbst als Erwachsenen anzuwenden, das mag der moderne Mensch nicht gern. Er mag sich nicht sagen: Ich muß meine innere Seelenentwicklung in die Hand nehmen; ich muß über dasjenige, was ich einfach durch die physische Geburt geworden bin, durch meine eigene innere Seelenarbeit hinauskommen; ich muß meine Seele zu einem Höheren entwickeln, als das ist, was mir ohne mein Zutun zukommt.
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