Rudolf Steiner: der Mensch erkennt durch seine heutige Wissenschaft nur das Tote

 

Aus Nr. 296 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 100 (Hervorhebungen IH):

Was eigentlich erkennt denn der Mensch mit dem, was er heute seine Wissenschaft nennt, und worauf er so ungeheuer stolz ist? Nur das Tote! Es wird ja immer in der Wissenschaft betont: Das Leben wird mit der gewöhnlichen Intelligenz nicht begriffen. Zwar glauben diese und jene Forscher, wenn sie chemisch immer weiter und weiter experimentieren, dann werde einmal der Zustand eintreten, dass man durch komplizierte Kombinationen der Atome, Moleküle und deren Wechselkräfte das Wechselspiel des Lebens kennenlernen werde. Dieser Zustand wird niemals eintreten. Man wird auf chemisch-physischem Wege nur das mineralisch Tote begreifen, das heißt, man wird so viel begreifen an dem Lebendigen, als an dem Lebendigen heute Leichnam ist. 

Aber was im Menschen intelligent ist und erkennt, das ist trotzdem dieser physische Leib, das heißt der Leichnam. Was tut denn eigentlich dieser Leichnam, den wir mit uns herumtragen? Er bringt es am weitesten in der mathematischen, geometrischen Erkenntnis. Da ist alles durchsichtig; dann wird es immer undurchsichtiger, je weiter man sich vom Mathematisch-Geometrischen entfernt. Das rührt davon her, dass der menschliche Leichnam der wirkliche Erkenner für uns heute ist, und dass das Tote nur das Tote erkennen kann. Was Ätherleib ist, was astralischer Leib ist, was Ich ist, das erkennt heute im Menschen nicht, das bleibt sozusagen im Dunkel stehen. Würde der Ätherleib ebenso erkennen können, wie der physische Leib das Tote erkennt, so würde der Ätherleib das Lebende der Pflanzenwelt zunächst erkennen. Das war aber das eigentümliche, dass im pflanzlich-lebendigen Leib der Ägypter diese Ägypter die Pflanzenwelt in einer ganz anderen Weise erkannten als der gegenwärtige Mensch. Und manche instinktive Erkenntnis aus der Pflanzenwelt, sie ist noch zurückzuführen auf die ägyptische Einsicht in dasjenige, was aus einem instinktiven Erkenntnisbewusstsein heraus der ägyptischen Kultur einverleibt worden ist. Selbst dasjenige, was heute in der Botanik für die Medizin gewusst wird, beruht vielfach noch auf Traditionen der alten ägyptischen Weisheit. Deshalb kommt es so oft dem Laienurteile dilettantisch vor, dass man sich gar zu gerne beruft auf irgendwelches Ägyptische, wenn man eine ja nicht sehr wertvolle Erkenntnis heute den Menschen vermitteln will. Sie wissen ja, wie sich manche gar nicht auf richtigem Fundamente ruhende sogenannte Logen «ägyptische Logen» nennen. Das rührt aber nur davon her, weil in diesen Kreisen noch Traditionen leben von der Weisheit, die durch den ägyptischen Leib zu erlangen war. Sehen Sie, man kann sagen: Mit dem allmählichen Eintritt der Menschen in die griechisch-lateinische Zeit ist der lebendige menschliche Pflanzenleib abgestorben, denn schon im Griechentum war der lebendige Pflanzenleib abgestorben, oder starb wenigstens allmählich ab. Wir tragen schon einen sehr stark toten Leib in uns, und insbesondere ist dieses Totsein für das menschliche Haupt richtig – wie ich Ihnen ja von einem anderen Gesichtspunkte auseinandergesetzt habe, dass das menschliche Haupt überhaupt für die Wissenschaft der Eingeweihten als Leichnam, als Totes, als fortwährend Sterbendes wahrgenommen wird.

Dessen wird sich immer mehr und mehr bewusst werden die Menschheit: dass sie eigentlich nur mit dem Leichnam erkennt und deshalb das Tote erkennt. 

Ebenso intensiv wird entstehen, je weiter wir der Zukunft entgegengehen, die Sehnsucht, wiederum das Lebendige zu erkennen. Aber man wird dieses Lebendige nicht durch die gewöhnliche Intelligenz, die an den Leichnam gebunden ist, erkennen. Es wird mancherlei notwendig sein, damit der Mensch, der verloren hat die Möglichkeit, auf lebendige Art in die Welt einzudringen, wiederum in solcher Weise in die Welt kommt. Man muss heute schon wissen, was der Mensch eigentlich alles verloren hat. Als der Mensch herüberkam aus der atlantischen Zeit in die nachatlantische Zeit, da konnte man manches nicht, was man heute kann. Sehen Sie, Sie können, jeder einzelne, wenn Sie sich meinen, seit einer gewissen Zeit in Ihrer Kindheit zu sich Ich sagen. Sie sagen dieses Ich recht respektlos. Dieses Ich wurde in der Menschheitsentwickelung nicht immer so respektlos gesagt. Es gab ältere Zeiten der Menschheitsentwickelung, wenn die auch schon zum Teil verglommen waren selbst in der ägyptischen Zeit – es gab ältere Zeiten, da wurde für das, was das Ich ausdrückte, ein Name gebraucht, der, ausgesprochen, den Menschen betäubte. Daher vermied man, diesen Namen auszusprechen. Hätte die erste Bevölkerung gleich nach der atlantischen Katastrophe es erlebt, dass der bei ihnen geltende und nur den Eingeweihten bekannte Name für das Ich ausgesprochen worden wäre, die ganze Versammlung würde betäubt worden sein, würde umgefallen sein, so stark hatte der Name für das Ich gewirkt. Ein Nachklang dieser Tatsache ist noch vorhanden in der alten Hebräerzeit, wo man spricht von dem unaussprechlichen Namen des Gottes in der Seele, der ja nur ausgesprochen werden durfte von Eingeweihten oder aber vor der Gemeinde eurythmisiert wurde. Der unaussprechliche Name des Gottes, er hat seinen Ursprung in dem, was ich Ihnen eben erzählt habe. Allmählich ist dies immer mehr verlorengegangen. Dafür lähmten sich ab die tiefen Wirkungen, die von solchen Dingen ausgingen. In der ersten nachatlantischen Zeit: tiefe Wirkung von dem Ich; in der zweiten nachatlantischen Zeit: tiefe Wirkung von dem astralischen Leib; in der dritten nachatlantischen Zeit: tiefe Wirkung von dem Ätherleibe, aber nun schon eine erträgliche Wirkung, eine Wirkung, die – wie ich Ihnen gestern auseinandergesetzt habe – den Menschen in Zusammenhang bringt, in Verwandtschaft bringt mit dem Kosmos. Jetzt können wir das Ich, wir können alles Mögliche aussprechen, aber die Dinge wirken nicht mehr auf uns, weil wir dasjenige, was wir von der Welt erfassen, mit unserem Leichnam erfassen. Das heißt, wir erfassen von der Welt das Tote, Mineralische. Aber wir müssen uns wiederum aufschwingen, zurückzukehren in jene Regionen, in denen wir das Lebendige erfassen. Und während der griechisch-lateinische Zeitraum vom 8. vorchristlichen Jahrhundert bis in die Mitte des 15. nachchristlichen Jahrhunderts vorzugsweise darauf angelegt war, immer mehr tote Erkenntnis für den Leichnam zu schaffen, geht bei uns jetzt die Intelligenz den Weg, von dem ich gestern gesprochen habe. Daher müssen wir uns aber stemmen gegen die bloße Intelligenz. 

Wir müssen zu der Intelligenz anderes hinzufügen.
Und da ist es charakteristisch, dass wir richtig den Weg zurückmachen müssen, dass wir jetzt im fünften nachatlantischen Zeitraum in gewisser Beziehung das Pflanzliche erkennen, im sechsten das Tierische, im siebenten dann erst das wahrhaft Menschliche. Also es wird eine Aufgabe der Menschheit, gerade über das bloße Erkennen des Mineralischen hinauszugehen und das Pflanzliche zu erkennen.  

Und jetzt, nachdem Sie dieses einsehen aus einem tieferen Zusammenhang heraus, bedenken Sie, welches der charakteristische Mensch ist für dieses Suchen der Pflanzenerkenntnis. Das ist Goethe. Denn indem er entgegen aller äußeren Wissenschaft vom Toten herangegangen ist an das Lebendige, an die Metamorphose, an das Werden der Pflanzen, war er der Mann des fünften nachatlantischen Zeitraums in seinen elementarischen Anfängen. Wenn Sie daher die kleine Abhandlung von Goethe aus dem Jahre 1790 lesen: «Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären», so finden Sie gerade in dieser Abhandlung, wie Goethe allmählich versucht, die Pflanze werdend zu erfassen, nicht als Totes, Abgeschlossenes, sondern als Werdendes von Blatt zu Blatt. Da sehen Sie den Aufgang jener Erkenntnis, die gerade in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum gesucht werden sollte.
Es ist also im Goetheanismus der Grundton angegeben für dasjenige, was gesucht werden soll durch diesen fünften nachatlantischen Zeitraum. Es wird gewissermaßen die Wissenschaft im Goetheschen Sinne aufwachen müssen, vom Toten zum Lebendigen herüberzugehen. Das ist ja gemeint, wenn ich immer wieder und wiederum sage, wir sollen uns aneignen, aus den toten abstrakten Begriffen herauszukommen, in die lebendigen konkreten Begriffe hinein. Und das, was ich vorgestern und gestern gesagt habe, ist im Grunde genommen der Weg in diese lebendigen konkreten Begriffe hinein. 

Nun wird das Hineinkommen in diese Begriffe, in diese Vorstellungen nicht möglich sein, wenn wir uns nicht dazu bequemen, dasjenige, was wir unsere Weltanschauung und Lebensauffassung nennen, als eine Einheit auszubilden. Wir sind heute durch die besondere Konfiguration unserer Kultur genötigt, gewissermaßen unorganisch nebeneinander herlaufen zu lassen die verschiedenen Strömungen unserer Weltanschauung. Denken Sie nur einmal, wie unorganisch nebeneinander herlaufen oftmals die religiösen Weltanschauungen eines Menschen und die naturwissenschaftliche Weltanschauung. Mancher Mensch hat die eine und die andere; aber er schlägt keine Brücke. Ja, er hat eine gewisse Scheu davor, eine gewisse Angst davor, eine Brücke zu schlagen. Und das müssen wir uns schon klar machen: so kann es nicht bleiben.  

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