Rudolf Steiner zur Notwendigkeit, die Initiationsweisheit einzuverleiben dem geistigen, dem rechtlichen, dem wirtschaftlichen Leben

 

Aus Nr. 198 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 142:

 

Die Sorge, von der ich gesprochen habe, von ihr muß deshalb gesprochen werden, weil es notwendig ist, daß nun eine ganz neue Initiationsweise beginnt aus dem menschlichen Willen, aus der menschlichen Freiheit heraus; weil in der Tat, wenn wir uns bloß auf die Außenwelt und auf das Überkommene verlassen, wir untergehen im Abendlande, wir in die Barbarei verfallen und wir nur aufwärtskommen können aus dem Willen heraus, aus dem Schöpferischen des Geistes heraus. Eine neue Initiationsweisheit muß einsetzen. Diese Initiationsweisheit, die in unserer Epoche ihren Anfang nehmen muss, wird ebenso wie die alte Initiationsweisheit, die nur allmählich dem Egoismus, der Selbstsucht und dem Vorurteil verfallen ist, ausgehen müssen von Sachlichkeit und Vorurteilslosigkeit und von Selbstlosigkeit. Sie wird von da aus alles durchdringen müssen. 

Dies kann man als eine Notwendigkeit einsehen. Man muss es als eine Notwendigkeit einsehen, wenn man tiefer hineinschaut in den heutigen unglückseligen Gang dieser abendländischen Zivilisation. Sieht man aber so hinein, so bemerkt man eben noch etwas anderes; man bemerkt, dass ein berechtigter Ruf in die Karikatur verzerrt wird. Und nun liegt die besondere Notwendigkeit vor, das Zur-Karikatur-Verzerrtwerden eines berechtigten Rufes gründlich einzusehen. Gewiss ist kein Ruf berechtigter in unserer Gegenwart als der nach Demokratie. Aber er wird zur Karikatur verzerrt, solange die Demokratie nicht erkannt wird als ein bloß für das rein politische, staatlich-rechtliche Leben notwendiger Impuls, und solange nicht erkannt wird, dass davon abgegliedert werden muss das wirtschaftliche und das geistige Leben. Er wird zur Karikatur verzerrt, indem im Grunde genommen statt Sachlichkeit, das heißt Vorurteilslosigkeit und Selbstlosigkeit, heute Unsachlichkeit, nämlich persönliche Willkür sowohl über Wissenschaft wie im sozialen Leben, und Selbstsucht zu Kulturfaktoren gemacht werden. Alles wird in das Gebiet hineingezogen, das man gewöhnlich das politische nennt, in das Gebiet, in dem herrschen soll das Recht. Geschieht aber das, so verschwinden allmählich Sachlichkeit und Vorurteilslosigkeit, denn das geistige Leben kann nicht gedeihen, wenn es seine Richtung empfängt von dem politischen Leben. Es wird immer dadurch in das Vorurteil eingespannt. Und Selbstlosigkeit kann nicht gedeihen, wenn das wirtschaftliche Leben innerhalb des politischen steht, denn dann wird es notwendigerweise in die Selbstsucht hineingetrieben. Wird nun dasjenige, was Selbstlosigkeit auf wirtschaftlichem Gebiete erzeugen kann, das assoziative Leben, verdorben, so tendiert alles darauf hin, heute die Menschen in Vorurteilen und in Selbstsucht ihre Wege wandeln zu lassen. Und die Folge davon ist, dass sie gerade das abweisen, was Sachlichkeit und Selbstlosigkeit basieren muss: die Wissenschaft der Initiation. Im äußeren Leben ist heute alles dazu angetan, zurückzuweisen diese Wissenschaft der Initiation, die einzig und allein über das Jahr 2200 hinausführen kann. 

Das ist die große Kultursorge, die einen überkommen kann, wenn man einen unbefangenen, nicht schläfrigen oder träumerischen Blick hineinwirft in die Geschehnisse der Gegenwart. Denn ich betrachte auf diesem Boden das Spenglersche Buch auch nur als ein Symptom. Gibt es denn eine Möglichkeit, heute etwa zu sagen: Nun ja, der Spengler hat sich geirrt, Kulturen sind gekommen, sind untergegangen, unsere wird untergehen, es wird aus ihr wiederum eine neue entstehen? – Nein, solch eine Widerlegung einer Anschauung wie der Spenglerschen gibt es überhaupt nicht. Sie ist ganz falsch gedacht. Denn die Zuversicht auf einen Aufstieg kann heute nicht auf dem Glauben aufgebaut werden, dass sich aus den Kulturen des Abendlandes etwas schon herausentwickeln werde. Nein, gerade wenn man auf diesem Glauben aufbaut, wird sich nichts herausentwickeln. Denn es ist einfach im Objektiven zunächst nichts vorhanden, was wie ein Same dasteht über den Beginn des 3. Jahrtausends hinaus, sondern da wir in Wirklichkeit in der fünften nachatlantischen Kulturepoche leben, muss erst ein Same geschaffen werden. Man kann daher zu den Leuten nicht sagen: Glaubt an die Götter, glaubt an das, glaubt an jenes, es wird schon gut gehen! – Das ist heute keine Widerlegung, sondern man muss heute zu den Leuten sagen: Diejenigen, die von Niedergangserscheinungen sprechen und sie sogar beweisen, die haben gegenüber dem, was in der Außenwelt lebt, recht. Aber dass sie nicht recht behalten, dafür muss jeder einzelne sorgen. Denn der Aufstieg kommt nicht aus dem Objektiven, der Aufstieg kommt aus dem Subjektiven des Willens. Ein jeder muss wollen und muss den Geist neu aufnehmen, und muss aus dem neu aufgenommenen Geiste der untergehenden Zivilisation selber einen neuen Antrieb geben, sonst geht sie unter. – Man kann also heute nicht an ein objektives Gesetz appellieren, man kann einzig und allein an den guten Willen der Menschen appellieren. Hier [in der Schweiz] ist ja, weil selbstverständlich die Dinge sich anders abgespielt haben, kaum von dem wirklichen Gang der Ereignisse etwas zu merken, obwohl er auch hier vorhanden ist. Kommt man aber über die Grenze nach Deutschland, dann tritt in allem, was man erleben kann, wenn man mit geistig-seelischem Auge schaut, das auf, was ich Ihnen eben jetzt charakterisiert habe. Dann tritt einem der große, furchtbar schmerzliche Kontrast vor die Seele zwischen der Notwendigkeit, die Initiationsweisheit einzuverleiben dem geistigen, dem rechtlichen, dem wirtschaftlichen Leben, und zwischen den perversen Instinkten (siehe dazu auch hier auf Umkreis-Online; Anmerkung IH), alles, was von dieser Seite kommt, zurückzuweisen. Es ist so, daß man heute, wenn man diesen Kontrast empfindet, wirklich lange nachdenkt, wie man ihn charakterisieren soll; und wer nicht leichtsinnig nach den Worten greift, dem werden heute die Worte gar nicht besonders leicht. 

Ich habe in Stuttgart über das Spenglersche Buch und im Zusammenhange damit über allerlei Erscheinungen der Gegenwart gesprochen und habe auch diesen Ausdruck im Sinne von «perversen Instinkten der Gegenwart» gebraucht; und ich muss sagen: Ich habe ihn heute wiederum gebraucht, weil ich ihn als den einzig angemessenen empfinde. Als ich damals vom Podium herabstieg, sprach mich einer von denjenigen Leuten an, die ja das Wort «pervers» in seiner terminologischen Bedeutung am besten verstehen, ein Arzt. Er war sehr betroffen, dass ich just dieses Wort gebrauchte. Aber die Betroffenheit ging, ich möchte sagen, aus sehr merkwürdigen Untergründen hervor. Man setzt im Grunde genommen heute gar nicht mehr voraus, dass jemand, der nur aus den Untergründen der Tatsachenwelt der Wirklichkeit heraus charakterisiert, mit Schmerz seine Worte wählt, sondern man setzt voraus, daß jeder die Worte so prägt, wie sie heute aus der Oberflächlichkeit des Zeitbewußtseins heraus geprägt werden. Und ich hatte dann ein Zwiegespräch mit jenem Arzte und sagte ihm dies und jenes, und er sagte dann dazu: Nun ja, dann bin ich froh, dass wenigstens der Ausdruck «pervers» nicht feuilletonistisch, belletristisch gemeint war! – Ich konnte nur sagen: Ganz gewiss ist das nicht der Fall, denn ich bin überhaupt nicht gewohnt, irgend etwas belletristisch oder feuilletonistisch zu meinen. 

Es handelte sich also darum, dass in der gegenwärtigen Verständigung der heutigen Menschen zunächst gar nicht mehr vorausgesetzt wird, dass es so etwas wie ein Schöpfen-aus-dem-Geiste geben könne, und dass jeder einfach glaubt, wenn man so etwas sagt wie «perverse Instinkte», dass man aus denselben Untergründen heraus redet wie der letztbeste Belletrist oder Feuilletonist. Denn, was heute belletristisch oder feuilletonistisch geredet wird, das beherrscht im Grunde genommen heute die Gemüter, und die Gemüter bilden sich daran. Und die Schwere der Ausdrücke prägen aus der Sache heraus – das wird dem Menschen gar nicht mehr bewusst. Gerade an einer solchen Erscheinung tritt einem der Kontrast entgegen zwischen dem, was so notwendig ist der heutigen Menschheit: einer wirklichen Vertiefung, die aber zurückgehen muss bis in die Untergründe der Initiationsweisheit, und dem, was heute durch die Karikatur der Demokratie auch als geistiges Leben zum Vorschein kommt. Die Leute sind viel zu bequem, erst irgendetwas in sich heraufzuholen von verborgenen Bewusstseinskräften. Jeder feuilletonisiert und belletristisiert darauf los, sei es bei Kaffeeklatsch, sei es beim Dämmerschoppen, sei es in der politischen Versammlung, sei es in den Parlamenten. Das hängt mit dem zusammen, was ich öfters gesagt habe, dass heute der Wortlaut nichts ist, dass aber dasjenige, was als Kraft des Geistes im Wortlaut zu verspüren ist, die Hauptsache ist. Geistreiche Dinge auszusprechen, ist heute das leichteste von der Welt, denn wir leben eben in einer sterbenden Kultur, wo die Geistreichigkeit den Leuten nur so zufließt. Aber den Geist, den wir brauchen, den Geist der Initiationsweisheit, den müssen die Menschen aus dem Willen herausholen. Und den werden sie nicht finden, wenn die Kraft dieser Initiationsweisheit nicht über sie, das heißt, über ihre Seelen kommt. Daher kann man nicht sagen: Man widerlegt solche Bücher wie das Spenglersche. – Man kann ein solches Buch natürlich charakterisieren: es ist aus naturwissenschaftlichem Geiste heraus geboren. – Aber das, was die anderen aus naturwissenschaftlichem Geiste heraus gebären, ist ja schließlich dasselbe. Also Spengler hat recht – wenn nicht hineinfährt in die Willenssphäre der Menschen dasjenige, was erst dieses Recht zum Unrecht macht! Man hat heute nicht die Bequemlichkeit mehr, zu beweisen, dass der Beweis des Unterganges falsch ist, sondern man muss das, was richtig ist, durch die Kraft des Willens zum Unrichtigen machen.  

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