Aus Nr. 39 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 235:
Rudolf Steiner in einem Brief an Rosa Mayreder:
Hochgeschätzte gnädige Frau!
Ihr Brief bringt mir eine Erlösung. Zwar habe ich nicht geglaubt, dass Sie mit den Worten «offenbare Feindin» getroffen sein können; doch sah es aus, als ob Zitter Sie gemeint haben könnte. Ich habe bestimmte Aufklärung über diesen Satz wiederholt von ihm verlangt. Seine Briefe enthalten darüber und über viele andere Fragen kein Wort. Ich hänge mit solcher Sympathie an der Lebens- und namentlich Weltanschauung, zu der Sie sich auch bekennen, dass ich Ihnen den Schmerz nicht beschreiben kann, der mich überfallen müsste, wenn Sie sich als meine Gegnerin bekennten. Von Ihnen missverstanden werden, ist mir ein ganz unerträglicher Gedanke. Eine Stelle Ihres Briefes macht es mir möglich, die Sache sogleich genauer zu bestimmen. Sie schreiben: «Ich stimme Ihnen vollkommen bei, wenn Sie Stirner an logischer Schärfe und Konsequenz des Denkens weit über Nietzsche stellen; dennoch haben die Stirnerschen Gedanken in der Stirnerschen Formulierung nicht jene Lebenskraft wie in der Nietzscheschen.» Was mir schon oft aufgefallen ist in Ihren Gesprächen, verrät auch dieser Satz: Sie meinen, ich leide an einer Überschätzung der logischen Schärfe und Konsequenz des Denkens. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass ich «logische Schärfe und Konsequenz» an sich gar nicht besonders hochschätze. Durch bloße Logik kann nie eine Produktion zustande kommen. Sollen die logischen Begriffshülsen nicht leer bleiben, so muss die Phantasie sie ausfüllen. Ich habe dies in meiner «Philosophie der Freiheit» (S. 7) mit den Worten gesagt: «Im Komponieren (in der Musik) dienen die Gesetze der Kompositionslehre dem Leben, der realen Wirklichkeit. Genau in demselben Sinne ist die Philosophie eine Kunst. Alle wirklichen Philosophen waren Begriffskünstler. Für sie wurden die menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik. Das abstrakte Denken gewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben.» Stellen Sie neben diesen meinen Satz den folgenden Nietzsches: die «Geburt der Tragödie» hat die Aufgabe, «die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens». Ich sehe unter dieser Optik, wenn ich sage: «Stirner hat bereits in den vierziger Jahren Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen; allerdings nicht in solch gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in kristallklaren Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie ein bloßes Stammeln ausnehmen.» Mit dem «kristallklar» ist keineswegs «logische Schärfe und Konsequenz» gemeint, sondern es ist auf jenes Erleben hingedeutet, von dem Nietzsche spricht mit den Worten: «Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboräer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. <Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboräern finden>: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – unser Leben, unser Glück.» «Man muss geübt sein, auf Bergen zu leben.» «Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen sich …» Alles das hätte Nietzsche bei Max Stirner finden müssen, wenn er ihn gekannt hätte. Stirner verstand es, auf dem höchsten Berge im Eise zu leben. Wer ihm folgt, gewinnt jene «Erfahrung aus sieben Einsamkeiten», von der Nietzsche spricht. Nietzsche träumt von der «Stärke für Fragen, zu denen niemand heute den Mut hat, den Mut zum Verbotenen, die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Neue Ohren für neue Musik». Ich glaube, man missdeutet Nietzsche nicht, wenn man sagt: er hätte bei Stirner die Vorliebe für Stärke, den Mut zum Verbotenen, die Vorbestimmung für das Labyrinth und die neuen Ohren für die neue Musik gefunden, wenn er ihn gekannt hätte. Ich finde bei Stirner etwas, was mir bei Nietzsche fehlt: die allseitig entwickelten Lebenskräfte, die ungehemmt ihrer Naturtendenz folgen. Ich finde bei Stirner eine Energie des Lebens, eine Fülle und Verwandlungsfähigkeit der Persönlichkeit, eine Artisten-Heiterkeit und Artisten-Freiheit, die mir bei Nietzsche doch nicht vorhanden zu sein scheinen. Bei Stirner atmet man in noch reinerer Luft als bei Nietzsche. Geheimnisse werden für Stirnersche Ohren offenbar, die wirklich jenseits des Todes, jenseits des Eises liegen. Es ist die Optik des Lebens, nach der Nietzsche strebt, bei Stirner verwirklicht. Mit der Stimmung, in die mich Stirner versetzt, hat die logische Schärfe und Konsequenz nichts zu tun. Ein Wesen, das das Walten der Gesamtnatur mitempfände, müsste einen gewaltigen Unterschied verspüren zwischen der Empfindung beim Entstehen eines vollkommen reinen Quarzkristalls und der anderen beim Entstehen einer Druse von Kristallen, die nur teilweise entwickelt sind, weil die Naturtendenzen sich nicht allseitig entwickeln konnten. Ist nicht zu leugnen, dass die zweite Empfindung die größere Mannigfaltigkeit hat, so ist doch die erste die reichere, vollere. Dieses und ähnliches wollte ich mit dem Worte kristallklar sagen; nichts aber von logischer Schärfe und Konsequenz. Die freieste Stimmung, Lebensfülle, Wirklichkeit finde ich bei Stirner. Was hat damit logische Schärfe und Konsequenz viel zu schaffen. Sie spielen die Rolle von kleinen technischen Handgriffen, wie sie jede Kunst braucht. Ihr Satz: «Nietzsche hat jenes plastische Sprachvermögen besessen, durch welches Gedanken, die keineswegs neu und originell sind, erst so geprägt werden, dass sie im geistigen Verkehr Leben gewinnen», kann natürlich von mir nicht angefochten werden. Ich höre jede Nuance der Nietzsche-Sprache. Ich empfinde wie einer das Formgewaltige jedes «Zarathustra»-Satzes. Ich habe den «Zarathustra» von jeher in Nietzsches Sinn empfunden und weiss dies, seit ich Nietzsches größtes, noch ungedrucktes Werk «Ecce homo» kenne. Das ist etwas, worüber ich Ihnen nur mündlich Mitteilung machen kann. Doch erinnert mich Ihr Satz an etwas, was R.M. Meyer jüngst schrieb: «Wie alle Bücher, die in abstrakter Entfernung von der lebendigen Fülle der Dinge ein Prinzip totreiten, ist das Buch Stirners unfruchtbar, und (im Sinne höherer Wahrhaftigkeit) unwahr.» Es fällt mir natürlich nicht im entferntesten ein, Ihre Ansicht, verehrteste gnädige Frau, mit der R.M. Meyers zu vergleichen. Aber Sie sprechen vom «geistigen Verkehr». Sie können doch unmöglich viel Respekt vor dem geistigen Verkehr zum Beispiel des heutigen Deutschland (Europens Flachland, wie Nietzsche so trefflich sagt) haben. Ich möchte Sie doch fragen, wieviel lebt im «geistigen Verkehr» von Böcklin, von Goethe, von Nietzsche. Sagen Sie nicht, die Leute fühlen deren Bedeutung, aber sie bringen sich ihr Gefühl nicht zum Bewusstsein. Die Beobachtung lehrt das Gegenteil. Wir haben Künstler, wir haben phantasievolle Denker; aber wir haben keinen geistigen Verkehr. Kommt ein solcher vor, so ist es ein Glücksfall. …
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