von Rudolf Steiner
Aus Nr. 193 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 98ff:
Dieses Mitsprechenlassen des Geistes ist es, was notwendig und immer notwendiger wird für die Menschheitsentwickelung der Zukunft. Dass man begreife, dass anthroposophische Weltanschauung nicht eine Sensation sein soll für Seelenmüßiggänger – und heutige Mystiker sind oftmals nichts anderes als Seelenmüßiggänger -, dass sie nicht etwas ist, was so ein Dessert des Lebens bietet, einen äußeren physischen Lebensgenuss, sondern dass sie etwas ist, was mit den tiefsten Impulsen unserer Kultur zusammenhängt. Das sollte man einsehen. Und auch, dass diese unsere Kultur nicht gesunden kann, wenn sie nicht von anthroposophischer Weltanschauung befruchtet wird. Das sollte man sich heute tief in die Seele schreiben, wenn man anthroposophische Weltanschauung kennengelernt hat.
Damit habe ich Ihnen von einem gewissen Gesichtspunkte aus kennzeichnen wollen, in welchem entscheidungsvollen Augenblick der Weltentwickelung der Menschheit wir eigentlich stehen. Gewiss, es liegt nahe, diejenigen Dinge, die heute als die notwendigsten gesagt werden müssen, als Narretei zu verurteilen, wenn man aus den Gedanken der Zeit heraus urteilt. Die Menschen glauben Christen zu sein und haben nicht einmal das Wort verstanden, dass dasjenige, was Weisheit vor den Menschen ist, oftmals Torheit ist vor Gott, und dass alle Torheit und vielleicht Narrheit und Tollheit vor den Menschen doch Weisheit vor Gott sein könnte, wie ja sonst auch die Menschen heute die innerlichen Impulse der Dinge leicht vergessen und sich an das Äußere der Phrase gerne halten. Wenn man heute zu den Menschen spricht und nach jedem fünften Wort das Wort «Christ» oder «Christus» oder «Jesus» sagt, dann redet man «christlich», wenn man sonst auch etwas sehr Unchristliches sagt. Wenn man aber vermeint, dasjenige zu verkünden, was der Christus heute uns in die Seele legt und dabei das auch schließlich ins Christentum übernommene Wort betrachtet: «Du sollst den Namen deines Gottes nicht eitel aussprechen», so halten das die Leute für nicht christlich. Denn die Leute plappern die Zehn Gebote ab, sprechen den Namen ihres Gottes alle Augenblicke eitel aus und halten sich gerade durch das Aussprechen dieses Namens für ganz besonders christlich. Ebenso wird man für nicht gut «deutsch» gehalten, wenn man das Wort «deutsch» nicht immer auf der Zunge führt. Heute ist es das Wichtigste, dass man einsieht, wie des deutschen Volkstums tiefste Kräfte in den letzten dreißig Jahren wie mit Füßen getreten worden sind und wieder heraufgeholt werden müssen gerade durch eine geistige Vertiefung.
Wir blicken nach dem Westen und finden eine Kultur, welche sich vollständig vermaterialisieren will, eine Kultur, die allerdings eine gewisse innere Sicherheit des Instinktes hat und dadurch im Materialismus nicht ertrinken kann. Und wir blicken nach dem Osten und finden eine Kultur, die alles Westliche und auch uns verachtet, weil diese östliche Kultur bei einer alten Spiritualität, bei einer alten Geistigkeit noch steht und diese alte Geistigkeit in einer gewissen Weise erneuert. Und wir stehen mitten darinnen und sind berufen, zwischen westlichem Materialismus und östlichem, aber für uns nicht zuträglichem Spiritualismus den rechten Weg zu finden. Und wir sollten uns in der Mitte Europas des großen Verantwortlichkeitsgefühles bewusst werden – und auch bewusst werden, wie sehr uns dieses Verantwortlichkeitsgefühl in den letzten Jahrzehnten abhanden gekommen ist. Das geistige Leben, was ist es denn geworden? Ein Anhängsel des Staatslebens, ein Anhängsel des Wirtschaftslebens. Der Staat als Verwalter des Geisteslebens, insbesondere des Schulwesens, hat uns das geistige Leben ruiniert. Das Wirtschaftsleben als der Brotherr hat es uns weiter ruiniert. Wir brauchen ein freies geistiges Leben, denn nur dem freien geistigen Leben können wir wirklich dasjenige einimpfen, was die geistige Welt der Menschheit offenbaren will. Diese Welle des geistigen Lebens, die muss herunter! Dem Staatsdiener, dem Staatsprofessor und dem, der im geistigen Leben der Kuli des Wirtschaftslebens ist, wird sie sich nimmermehr offenbaren; allein dem, der mit dem geistigen Leben täglich zu ringen hat, der im freien Geistesleben drinnensteht. Die Zeitentwickelung selber fordert die Befreiung des Geisteslebens aus Staats- und Wirtschaftsbanden.
Diese Dinge, die heute auch in einer anderen Form durch das Programm der «Dreigliederung des sozialen Organismus» verkündet werden, die sind heute das Christentum, die sind heute in äußerliche Formen gekleidete geistige Offenbarungen. Die sind das, was die Menschen brauchen, was einzig und allein die reale Grundlage und reale Möglichkeit bietet zum Umdenken und Umlernen, was der Menschheit so notwendig ist. Wir haben Krieg führen müssen mit einem Lande, das ein instinktives politisches Leben von hoher Vollendung hat, und das seit langem viele Kolonien und seinen Industrialismus in Verbindung mit den Kolonien hat. Wir haben Krieg geführt als ein Land, welches einen erst aufstrebenden Industrialismus hatte, welches erst Kolonien haben wollte. Wir hätten zu diesem Streben Geist gebraucht, und niemand hat mehr die Sünde wider den Geist begangen als dasjenige, was führend im Wirtschaftsleben in den letzten drei Jahrzehnten in Deutschland war. Denn das Programm war da: die Ablehnung des geistigen Lebens, das Sich-Überlassen dem bloßen Zufall, dem ungeistigen Zufall. Wie wenn der Weltengeist gerade dem deutschen Volke hätte die größte Lehre geben wollen durch die Auferlegung der größten Prüfung, so ist es. Diesem Volke sollte gezeigt werden, dass es ohne den Geist nicht geht. Und dieses Volk wird einsehen müssen, dass es ohne den Geist nicht geht. Aber es scheint, als ob es schwer dazu käme, einzusehen, dass es ohne den Geist nicht geht, denn es ist noch immer geneigt, alles andere eher zu verurteilen, als das Nichtsichbewusstsein einer Verantwortung gegenüber dem Geist. Die Dinge, die sich in unseren Tagen auf diesem Gebiete so jammervoll abspielen, das Sich-Garnichtbewusstwerden, wie wenig geeignet die Menschen sind, das Schicksal des deutschen Volkes zu führen, die gegenwärtig es gegenüber dem Westen aufgetragen bekommen haben, wie unsinnig diese ganze Expedition durch die daran beteiligten Menschen ist, und der Wille, nicht zu prüfen, nicht hinzuschauen auf das, was geschieht, das ist noch immer ein Zeugnis für das Schlafen der Seelen, die sich längst hätten sagen müssen: Was da in Versailles aufgetreten ist, von uns hingeschickt, das ist ungeeignet, so ungeeignet als möglich, um den heutigen weltgeschichtlichen Augenblick zu begreifen. Aber solche Dinge wird man erst in der richtigen Weise beurteilen, wenn man sich der Verantwortung gegenüber dem Geiste bewußt wird, wenn man erkennen wird, dass man in dem allergrößten weltgeschichtlichen Augenblicke lebt, und dass man die Verpflichtung hat, die Dinge nicht im allgemeinen Sinne leicht zu nehmen, sondern sie ernst zu nehmen. Aber es kann auf .gewissen Gebieten heute geredet und geredet werden, es nützt nichts und es ist ja bequemer, zu sagen, die, welche auf ihre Posten gestellt sind, werden es schon machen. Die mit den alten Gedanken heute auf ihre Posten gestellt werden, ob sie alte Aristokraten, dekadente Aristokraten oder marxistische Sozialisten sind, die von aller Welt nichts wissen, höchstens von Marx‘ «Kapital» etwas aufgenommen haben, ob sie das oder jenes sind: wenn sie nicht den Willen finden, jene große Umkehr der Seelen zu vollziehen zu neuen Gedanken, dann entsteht kein Heil. Die Revolution vom 9. November 1918 war keine Revolution. Denn das, was sich geändert hat, ist nur der äußere Stuck. Dasjenige, was sich geändert hat, tritt am stärksten hervor bei denjenigen, die den äußeren Stuck an der Stelle derjenigen, die ihn früher an sich getragen haben, nunmehr an sich tragen. Diese Dinge wollen in ihren Fundamenten gesehen werden. Aber dazu braucht man Gedanken. Zu diesen Gedanken muss man den guten Willen haben, und dieser gute Wille wird nur kommen, wenn man ihn trainiert an der Beschäftigung mit der geistigen Welt (das heißt an dem Studium der Anthroposophie; Anmerkung IH). Deshalb ist diese Beschäftigung mit der geistigen Welt das, was heute der einzig wirkliche Balsam ist, den die Menschheit braucht.
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